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Fakten zur Aufführung 

CARMINA BURANA
(Carl Orff)
20. Juni 2012
(Premiere am 31. März 2012)

Stadttheater Bremerhaven

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Herrscherin Fortuna, schwarzweiß

Der Vorhang öffnet sich, die Zuschauer blicken auf ein offenes Bühnenhalbrund, in dem sich bei langsam aufhellender Beleuchtung ein den Hintergrund halbkreisförmig füllendes Stahlgerippe auftut und drei übereinander liegende Etagen freigibt. Langsam erkennt man dunkle Gestalten in  schwarzen Kutten mit Kapuzen, die die Gitteretagen füllen, als stünden sie vor ihrer Zellentür – ein dunkles, düsteres, rätselhaftes Bild. Langsam ansteigend ertönen mit O Fortuna… die ersten Töne von Orffs Carmina.

In der Eröffnungsszene tanzt ein mit weißer Maske verkleideter dunkler Tänzer einen sehr expressiven, freien Ballettpart zum Chorgesang. Weitere Tänzerinnen und Tänzer, fünf Damen und drei Herren, nun ohne Maske, gesellen sich hinzu und tanzen in freien Figuren und Bewegungen zur Eingangsmusik und dem ersten Cantus, es entsteht eine dunkle, spannungsgeladene Atmosphäre, in der sich Ballett und Orchester wirkungsvoll treffen, alles bleibt abstrakt, der Wirklichkeit entrückt.

Carl Orffs kräftig-bäuerliches Werk, meist als Chorkonzert präsentiert und als am häufigsten aufgeführtes Chor-Orchester-Werk der Neuzeit gefeiert,  hat im Stadttheater Bremerhaven Stefan Veselka gemeinsam mit dem Choreographen Sergei Vanaev zu einer szenischen Aufführung animiert, die in mehrerlei Beziehung von den üblichen chorischen Aufführungen abweicht. Der schwarze Kuttenchor ist ein Element, ein weiteres die ebenfalls in schwarzen Trikots und schwarzen Netzumhängen tanzende Ballettgruppe, hinzu kommt ein kräftiger, ungewohnter Kontrapunkt, wenn die  drei Solostimmen in weißen Kutten mit Kapuzen auftreten. Peter Kubik, Solobariton in weisser Kutte, gibt einen wohltemperierten Solopart und trägt voll und expressiv die Stimmungen mit. Es bleibt unklar, ob eine größere Dynamik von der Bühne geschluckt wird oder der Inszenierung geschuldet ist, jedenfalls bleiben im zweiten Teil  die herrlich-komischen Schenken-Gesänge etwas matt. Pinelopi Argyropoulou mit Sopranstimme bringt in den Höhen wunderbar weiche, wohl tönende Klänge, in der Mittel- und Tieflage fehlt ihr Volumen. Bei seinem kurzen Auftritt glänzt der Countertenor Thomas Burger mit einer sehr schönen, offen-tragenden Stimme. Martin Bringmann gibt den sicheren, souveränen Sprecher.

Unter der Leitung von Stefan Veselka gelingt  dem Städtischen Orchester Bremerhaven auch in der teils ungewohnten Besetzung etwa im Schlagwerk ohne Mühe ein authentisches Klangbild der für Orff so typischen stark rhythmisierten Musik. Leider bringt der über 80 Sänger starke Chor, den Ilia Bilenko, Eva Schad und Werner Dittmann aus dem Opernchor, der Evangelischen Kantorei Bremerhaven, dem Bach-Chor Bremerhaven und dem Kinderchor zu einem Projektchor zusammengeführt  haben, vor allem bei forte-Motiven zu wenig Dynamik,  intoniert nicht präzise genug und zeigt sich sprachlich nicht geübt, was sich besonders bei den Männerstimmen bemerkbar macht. Der aus über 20 jungen Sängern  bestehende Kinderchor , bei dem es vor allem auf die Kontraste der hellen Kinderstimmen ankommt, überzeugt durch seine Gesangsfreude. Das von Sergei entworfene und einstudierte Ballett lässt den Tänzern viel Raum zu freier Improvisation und Bewegung, in die gelegentlich artistische Elemente einfließen. Es gibt keine Geschichte zu erzählen, Tänzerinnen und Tänzer interpretieren und akzentuieren die Orffsche Musik - ein weiteres abstraktes Element dieser Aufführung.

Insgesamt erleben die Zuschauer ein gelungenes Experiment, das viele Grundelemente der Orffschen Ideen neu interpretiert, sie stark abstrahiert und als schwarzweißes  Singspiel mit freien Tanzelementen neu auf die Bühne bringt. Mancher Besucher mag ein wenig wehmütig an die bunten Bauernmotive anderer Inszenierungen denken, die Orffs Assoziationen aus den über 250 „moralisch-satirischen Gedichten, Liebes-, Trink- und Spielerliedern“ einer im Kloster Benediktbeuern gefunden Lieder- und Gedichtsammlung als fröhliches  Bauernfest vital auf die Bühne brachten. Die Bremerhavener Inszenierung dagegen abstrahiert, sehr ungewohnt, aber  durchaus gelungen, indem sie das Grundmotiv, das sich stets drehende Rad der Fortuna ernst nimmt: Das Glück, das Lebensglück in einem ständigen Wechsel des Auf und Ab.

75 Jahre nach der Uraufführung am 8.6.1937 in Frankfurt ist die Zeit wohl reif für neuere Interpretationen, die sich auch neuerer Mittel und Darstellungen bedienen müssen. Schade, dass die hierfür unerlässliche Unterstützung durch einen stimmkräftigen, präzisen  Chor nicht zur Verfügung steht.

Mit dem Schlussauftritt des Solotänzers mit Maske schließt eine weitgehend abstrakte Inszenierung, in der viele die bunten Farben und Töne vermissen, zu denen Orffs Carmina inspiriert, die dennoch eine neue attraktive Interpretation von Orff bietet. Das Publikum dieser letzten Aufführung ist mit der Neuinszenierung durchaus einverstanden und spendet begeisterten Beifall.

Horst Dichanz

 



Fotos:
Nr. 1: Bekanntes Carmina-Motiv Rad der Fortuna aus der Handschrift, Repro Schotts Söhne Verlag Mainz
Nr. 2-6: Heiko Sandelmann