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Fakten zur Aufführung 

MAMA DOLOROSA
(Eunyoung Kim)
20. Juni 2012
(Premiere am 13. Mai 2012)

Staatstheater Braunschweig


Points of Honor                      

Musik

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Die neue Art der Oper

Mama Dolorosa – Mater Dolorosa. Wie einst Maria – in lebenslanger Sorge um ihren Sohn Jesus Christus – geht es auch Mama Dolorosa. Nach zwei Abtreibungen hat die in Seoul lebende Frau endlich den so lange ersehnten Sohn geboren, denn Jahrhunderte lang galt in Korea die Devise, ein Mädchen zur Welt zu bringen, wäre ein Unglück. Unsagbar von Freude erfüllt, hegen und pflegen Mama Dolorosa und ihre Schwiegermutter den Sohn, stellen ihn unter einen Glassturz wie der Kleine Prinz seine Rose und kämpfen um seine Zuneigung. Umwerbungen von jungen, außenstehenden Mädchen können sie nicht billigen. Eines Tages jedoch verschwindet der Sohn mit einem Mädchen aus dem Haus. Ein - vermeintlicher - Kommissar bringt die Hose des Jungen zu den Erziehenden mit der Nachricht, im benachbarten Treppenhaus sei ein Mädchen umgebracht worden. Ohne jegliche Beweise versucht Mama Dolorosa, den Kommissar abzulenken und macht ihm ein eindeutiges Angebot für den nächsten Tag. Dieser fordert, sein Stillschweigen sofort zu honorieren und vergewaltigt die hilflose Frau. Währenddessen fällt der Sohn langsam aus dem Schrank und – so darf vermutet werden – erhängt sich.

Das Stück ist eine Komposition der Koreanerin Eunyoung Kim, das Libretto stammt von Yona Kim. Es ist ein Auftragswerk der Stadt München für die 13. Münchener Biennale 2012, die unter dem Motto Der ferne Klang steht. Das Staatstheater Braunschweig ist  Koproduktionspartner.

Yona Kim, Librettistin und Regisseurin, macht die Orchesterinstrumente zum Mittelpunkt des Stücks, obwohl das Orchester nur klanglich präsent, nicht aber für die Zuschauer sichtbar ist. Nach und nach finden sich immer mehr Instrumente auf der Bühne, unterstreichen szenische Darstellungen oder übernehmen die Stellvertreterfunktion für eine Person. In dieser Grenzüberschreitung findet für sie Musiktheater statt. Die Idee ist schön, nimmt man doch so manch einer Szene wie der des Selbstmordes des Sohnes seine extreme Grausamkeit ab dadurch, dass ein Cello statt des Jungen von der Decke hängt. Die Umsetzung ist allerdings auch schwierig, denn einige Szenen erschließen sich nicht. Was beispielsweise das Wasser in den Blechbläsern soll, ist nicht schlüssig, eher verwirrend. Das Bühnenbild tut – gewollt – sein Übrigens dazu. Überall liegt und steht etwas herum. Ben Baur kreiert besonders mit dem telefonzellenartigen Glassturz eine Atmosphäre der Transparenz einerseits, der Unvorhersehbarkeit andererseits. Der Junge ist in diesem durchsichtigen Käfig – stellvertretend für die einengende Beziehung zu seinen „Eltern“ – gefangen, er darf sein Leben nicht selbst in die Hand nehmen. Sein erster Versuch, dieses zu tun, scheitert. Für die Kostüme hat sich Hugo Holger Schneider besonders bei der Unterwäsche der Mutter ins Zeug gelegt und eine Art Keuschheitsschlüpfer – der Name ist hier angebracht – erschaffen. Das Kostüm des Sohnes – engels- oder gottgleich, mit Flügeln und strahlend weiß – unterstreicht das Bild der überdimensionierten Liebe der Erziehenden.

Philipp Grimms Rolle als Sohn beschränkt sich auf das Handeln. Er hat weder einen Sprech- noch einen Gesangspart. Passiv muss er die merkwürdigen und über die normale Liebe einer Mutter hinaus gehenden Liebkosungen und Verhätschelungen ertragen. Er spielt überzeugend und besonders in seiner Mimik spiegelt sich das Geschehen und seine Gefühle wider. Rebecca Nelsens Part der Mama Dolorosa ist sehr anspruchsvoll – besonders in der Vergewaltigungsszene. Die Verzweiflung, sich den Sohn wohl als Mörder eingestehen zu müssen, bringt sie stimmlich hervorragend herüber. Spannend ist der Sprech- und Gesangspart von Daniel Gloger, der die Großmutter spielt. Die Rolle ist für einen Countertenor komponiert. Es soll so deutlich gemacht werden, dass die Großmutter über dem Geschlechterkonflikt, der in Korea herrschte, steht und ihn eher von außen wahrnimmt. Die androgyne Stimme klingt oftmals schrill und schwer zuordenbar, wenn man an eine traditionelle Oma denkt. Aber Daniel Gloger beherrscht den Counter perfekt. Er integriert bewundernswerterweise alle Emotionen – Wut, Hass, Liebe – ganz wunderbar in seine Stimme. Simone Lichtenstein und Julia Rutigliano als Nachbarmädchen und Nachbarin geben zwei undurchschaubare, irgendwie falsche Frauen ab. Die Szene, in der das Nachbarmädchen seine Menstruation bekommt, kann sie nicht aus der Ruhe bringen. Ein großes Kompliment gilt auch Christian Miedl als Kommissar. Herrisch, gewalttätig, kalt und übermächtig fordert er den Jungen oder die Unterwerfung Mama Dolorosas. Paradoxerweise ist er es, der überemotional deklamiert: „Ich bin der Überzeugung, dass der Junge selbst ein Opfer seiner Umgebung ist, die übersexualisiert und voller Kriminalität ist.“

Auch die Musik unter dem Dirigat von Christopher Hein schafft – gewollt – keine Orientierung. Mit einem oftmals hohen Geräuschpegel – schließlich ist Seoul Ort des Geschehens – und einer extremen Öffnung für Alltagsgeräusche kreiert er mit dem Staatsorchester Braunschweig eine Welt voller einzelner Töne, weniger von Klangsphären. Das Gefühl des Realen schwirrt stets mit durch den Raum, es gibt keine Sekunde, in der sich der Zuschauer fallen lassen kann. Hein hat sein Orchester dabei fest im Griff, die musikalische Spannung bleibt bis zur letzten Sekunde erhalten.

Eine komplexe Handlung mit viel Verwirrung stiftenden Elementen, Blut, Sex und Moralpredigten aus dem Mund einer Person, die das Gegenteil von dem lebt, was sie sagt. Ist sie das also, die neuartige Form von Oper, in der man selbst zum Zeichendeuter wird, weil das Internet einem noch nicht sagt, wie der Regisseur die Oper wohl gemeint hat.  Das Publikum zeigt sich beim Applaus verhalten. Mit einem vielleicht zu ausgedehnten Kamerarundgang durch Braunschweig, der zu Beginn des Stücks auf eine Leinwand projiziert wird, ist es zudem vielleicht auch auf dem falschen Fuß erwischt worden, denn schon hier zeigen sich erste Verunsicherungen und mäßige Begeisterung.

Agnes Beckmann

Fotos: Karl-Bernd Karwasz