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Fakten zur Aufführung 

DON GIOVANNI
(Wolfgang Amadeus Mozart)
30. April 2011 (Premiere)

Staatstheater Braunschweig


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In der Erinnerung einer verstörten Gesellschaft

Ein Ende vor dem Anfang – so beginnt die Neuproduktion des Don Giovanni am Staatstheater Braunschweig. Die Schlussszene, in der Anna, Ottavio, Elvira, Leporello, Zerlina und Masetto nach Don Giovannis Höllenfahrt über das Geschehene noch einmal reflektieren, ist hier an den Anfang vorgezogen. Oder, besser gesagt, vor den Anfang. Die Protagonisten sitzen stumm an einer langen Tafel, hören ihrem eigenen Gesang, der vom Band eingespielt wird, zu, auf den letzten Akkord setzt unmittelbar – jetzt vom Orchester gespielt – die Ouvertüre ein.
Der Zuschauer erlebt das Bühnengeschehen als eine Retrospektive, die nur in der Erinnerung der beteiligten Personen stattfindet. Dabei sind sie Gefangene in einer Art Anstalt, der Bühnenraum – von Stefan Heinrichs entworfen – ist ein Innenhof eines nach außen verschlossenen Ortes, begrenzt von drei übereinandergelagerten Ebenen aus schmalen Gängen, durch Treppen miteinander verbunden. Eine lange Tafel aus mehreren Tischen, die auch mal einzeln benutzt werden, ein schwarzes Ledersofa – das ist alles, woran und worum sich die Geschichte abspielt. Verstörte Menschen sind hier zu sehen, die durch die Repetition ihrer Erlebnisse mit Don Giovanni noch verstörter werden. Das wird dadurch verstärkt, dass jede Figur, außer Don Giovanni selbst und dem Komtur, ein Statistendouble bekommt und damit wenigstens ansatzweise zu einer gespaltenen Persönlichkeit wird. Ebenfalls sind die Kostüme des Chores exakt die der Solisten. Es dreht sich also alles um diesen Kreis von Menschen, der durch die Begegnung mit Don Giovanni Leid, Missgunst, Lust, Erotik und vieles andere mehr erlebt hat. Standesunterschiede spielen dabei keine Rolle mehr, Abendgarderobe für alle (Kostüme: Claudia Jenatsch) symbolisiert eine überfeinerte, dekadente Gesellschaft. In diesem Konzept entwirft Regisseur Johannes Erath einerseits eine starke, theatralisch ungemein wirksame und psychologisch packende Geschichte, in der andererseits nicht jedes Detail stimmig und konsequent ist. Warum Anna etwa am Ende ihrer großen Arie im ersten Akt allein steht und neben Ottavio ihr Double sitzt, dass sich eben während dieses Moments erschießt, ist einer von einigen Einfällen in der Personenregie, die Fragen aufwerfen. Genauso die zweite musikalische Umpositionierung der Aufführung – nach dem Ende, Don Giovannis Fahrt zur Hölle, hält Ottavio die Pistole auf ihn, erschießt ihn und singt dann die Arie „Dalla sua pace“, die sonst im ersten Akt kommt. Warum Ottavio hier am Schluss zum Held stilisiert wird, erklärt sich nicht. Trotz allem aber: die Inszenierung insgesamt übt durch ihre Psychologisierung Sogwirkung aus.

Dass das Braunschweiger Haus den Don Giovanni gerade jetzt machen sollte, dafür steht einmal wieder die hohe Qualität des Ensembles. Orhan Yildiz ist nicht nur eine optisch attraktive Besetzung, er verleiht mit seinem kernigen, warm timbrierten und im Lauf des Abends erheblich an Ausdrucksstärke zulegenden Bariton der Titelpartie starkes Profil. Ein stimmlich absolut ebenbürtiger Partner ist ihm Dae-Bum Lee, der für seinen klangvollen, flexiblen Bass mit dem Leporello einmal weitere ideale Partie gefunden hat. Mit mächtigen, imposanten Basstönen nutzt Selçuk Hakan Tiraşoğlu die kurze Partie des Komturs, um seine beachtlichen Qualitäten auszuspielen. Neu im Ensemble ist Matthias Stier, der sich als Ottavio mit schön schmelzendem, gut geführtem lyrischen Tenor vorstellt und damit schon die Vorfreude auf weitere Partien weckt. Malte Roesner schließlich gibt einen virilen, dynamischen Masetto, der stimmlich durchaus erkennen lässt, dass sein Bariton schon den Weg in Richtung der Titelpartie einschlägt.

Den Herren stand ein starkes Damentrio an der Seite. Ekaterina Kudryavtseva singt die Donna Anna mit großem, lyrisch grundiertem, aber bereits zu dramatischen Ausbrüchen fähigem Sopran, satt und rund in der Mittellage und Tiefe, glänzend in der Höhe. Dazu bildet das eher raue Timbre von Julia Rutigliano einen sehr guten Gegensatz, der beide Charaktere stimmlich bestens voneinander abhebt. Sie kann durch einige Schärfen in der Höhe nicht verleugnen, dass die Elvira sie momentan noch an Grenzen führt. Das fällt allerdings kaum ins Gewicht, denn mit ihrer vor allem in der Mittellage sehr gut fokussierten Stimme, die souverän geführt ist, verleiht sie der Figur glaubhafte Stärke. Ebenso glücklich besetzt ist die Zerlina mit Moran Abouloff. Ihr lyrischer Sopran hat – noch – einen leichten Soubrettenklang, silbrig-klar im Timbre und ganz leicht und schlank geführt. Das passt nicht nur wunderbar zur Rolle, sondern damit hebt auch sie sich mit einer ganz individuellen Farbe von den beiden anderen Damen ab. Das so wichtige dramaturgische Konstrukt, drei wirklich vollkommen unterschiedliche Frauentypen zu zeigen, erfährt so nur auf der vokalen Ebene eine eindrucksvolle Umsetzung.

Sebastian Beckedorf hat das Staatsorchester sicher und straff im Griff, über weite Teile des Abends ist ein klarer, plastischer, dabei durchaus auch immer wieder schroffer Mozart-Klang zu hören. Vor allem im ersten Akt hatte er allerdings mitunter Mühen, Bühne und Graben exakt zusammenzuhalten. Das sei jedoch der Premierennervosität zugeschrieben, denn insgesamt animierte er seine Musiker zu konzentriertem, klangschönen Spiel und hatte spätestens ab dem zweiten Akt gerade in den heiklen Ensembleszenen Orchester, Solisten und den von Georg Menskes gewohnt souverän präparierten Chor auf einer sicheren Linie durch die Partitur.

Großer Jubel für Solisten, Chor und Orchester, unverständlich massive Ablehnung für das Regieteam mit einem selten einhelligen Buh-Orkan. Die Regie ist sicher ungewöhnlich, lässt aber trotz aller Ecken und Kanten eine eingehende und auch plausible Beschäftigung mit dem Stück erkennen. Das scheint leider am überwiegenden Teil des Publikums vorbeigegangen zu sein.

Christian Schütte






 
Fotos: Karl-Bernd Karwsz