Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

Fakten zur Aufführung 

WRITTEN ON SKIN
(George Benjamin)
29. September 2013
(Premiere)

Theater Bonn


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Chat-Faktor


Rezensionen-Archiv

Aufführungen nach Name
Aufführungen nach Ort


 
 

zurück       Leserbrief

Gefallene Engel

Während 15 Minuten vor Vorstellungsbeginn noch die letzten Orchestermusiker auf dem Fahrrad angesaust kommen und sich an der Kasse Pärchen unterschiedlichster Art durch zu vergebende Abonnementskarten spontan zusammenfinden, füllt sich das Foyer mit babylonischem Sprachgewirr. Internationales Publikum und regionale Prominenz scheinen den Glanz der Zeiten Bonns als Hauptstadt aufleben zu lassen. Gespannte Erwartung auf die Premiere liegt in der Luft, über die im Vorfeld schon so viel gesprochen wurde.

Written on skin ist eine Oper des britischen Komponisten George Benjamin, die 2012 bei ihrer hochgelobten Uraufführung für Furore beim Festival d‘Aix-en-provence gesorgt hat. Nun traut sich zu Spielzeiteröffnung und Amtsantritt Intendant Bernhard Helmich an dieses Werk und verpflichtet für Regie und Ausstattung das für außergewöhnliche Inszenierungen bekannte Team Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka. Am heutigen Abend kann man beispielhaft beobachten, was passiert, wenn man versucht, moderne expressive Musik mit ebensolch abstrakten Mitteln umzusetzen, nämlich klare Überstrapazierung auf Kosten der Musik.

Benjamins Oper ist an sich ein Stück von musikalisch geballter Konsistenz, das für den ersten Höreindruck bereits viel Aufmerksamkeit fordert. Das Libretto tut sein Übriges, wenn es die Akteure hauptsächlich in der dritten Person sprechen lässt; ein Kunstgriff, den man aus der literarischen Tradition beispielsweise von Ernst Jandl kennt, der das in seiner Sprechoper Aus der Fremde zur Selbst-Entfremdung des Subjekts anwendet. Auch in dieser Oper steht die Distanz von Subjekt zu Objekt auf dem Programm: Beobachtet und dirigiert von einer Heerschar diabolisch anmutender Engel aus der Zukunft, mutiert eine mit 14 Jahren an einen reichen Grundbesitzer verheiratete Frau vom scheuen Dasein als gehorsames und misshandeltes Eheweib zu einer sich ihrer Sexualität, ihrer Stimme und vor allem sich selbst bewusst werdenden Frau. In der Sprache passiert das, indem sie sich selbst – nämlich ihr Ich, ihren Namen Agnès – findet, in der Musik mit absolut sphärischen Klängen. Obwohl ihr „Beschützer“ alias ihr Ehemann versucht, sie wieder in ihr altes Selbst zu zwingen und ihr das Herz des Liebhabers zu essen gibt, bleibt sie ihrer neuen Erfahrung treu und bringt sich lieber um, bevor ihr Mann das übernimmt. Auslöser dieser Handlung ist der Wunsch des Mannes, seine eigentlich verabscheuungswürdigen Taten zu beschönigen und in einem illustrierten Buch der Nachwelt zu erhalten. Dafür beauftragt er einen Jungen, der als Engel herabsteigt und ihn in einem Buch unsterblich machen soll. Das Ganze beruht auf der Sage eines Troubadours aus dem Frankreich des 13. Jahrhunderts Guillem de Cabestanh – Le cœur mangé. Daher auch der Titel Written on skin, im Mittelalter waren Bücher auf Pergament, also auf Haut verewigt.

Szemerédy und Parditka gehen in ihrer Inszenierung in die Vollen. Wenn der Zuhörer schon bei der Musik aufmerksam sein muss, warum nicht auch auf der Bühne richtig „reinhauen“? Statt sich auf die psychologischen Feinheiten der Beziehungen der Protagonisten untereinander zu konzentrieren, liegt der Fokus eindeutig auf dem visuellen Eindruck. Das Bühnenbild ist definitiv eines: interessant. Ein schäbiges, ruinenhaftes Zimmer, dessen Wände oben abgebrochen sind, dominiert den linken Teil der Bühne. Seine Architektur ist völlig der Asymmetrie hingegeben, es ist nach vorne gekippt und die Wände streben ebenfalls auseinander, sodass eine Art offenes Trapez entsteht. Darauf steht nur ein bunter Sessel. Ein Lamm aus Stoff liegt bereit, um vom patriarchalen Ehemann zukunftsweisend ausgeweidet zu werden. Berge aus Büchern liegen auf dem Boden im Dunkeln darunter, die, wie man später feststellt, Statisten bedecken. Eine Leiter führt aus dem Nichts von unten nach oben mitten durch das Zimmer. Wo sie im Bühnenhimmel verschwindet, dreht sie sich einmal um sich selbst, was an den DNS-Strang des Menschen erinnert und wahrscheinlich eine Anspielung auf die himmlisch-göttlichen Geschöpfe sind, die Menschen und Engel. Ein Laufband geht im rechten Hintergrund der Bühne abwärts und rechts vom Zimmer in die entgegengesetzte Richtung. In seinem Einsatz werden Teile des Librettos zwar aufgegriffen, ansonsten dient es zur Zurschaustellung von einem Haufen symbolischer Requisiten, die je nach Thema über das Laufband in die Bühnenhölle rollen; mal sind es Koffer, mal wie am Fließband geborene Babies, deren stöhnende Mutter wie eine Maschine immer neue Kinder aus sich herauspresst, mal gehetzte Menschen mit Einkaufstüten auf denen „Die, buy“ und Ähnliches steht. Im rechten Teil der Bühne steht dann noch eine steinerne Schieferwand mit einem Loch, davor wieder aufgereihte Bücher. Das Bühnenbild ist so dermaßen detailgeladen, dass das Auge es schwer hat, alles wahrzunehmen. So verpasst der Zuschauer Details, aber vor allem lenkt es von der komplexen Musik und dem starken Text ab. Die Kostüme bedienen eine breite Palette an Absonderlichkeiten, da ist eigentlich vom Lack- und Leder-SM-Kostüm über die festliche Abendgarderobe, weiße Unterwäsche, Gitternetzkittel auf nackter Haut alles dabei. Die Engel tragen schwarze Pilzkopf-Perücken, die an Mönchsfrisuren erinnern, allerdings ohne Tonsur. Nur der erste Engel, später der Junge, trägt orange auf dem Kopf, ebenso wie die Haarpracht von Agnès, die sie nach ihrer erotischen Erfahrung mit dem Jungen in Wellen offen trägt. Farben spielen im Kostüm der Hauptdarstellerin überhaupt eine große Rolle: Zunächst im grauen Unterkleidchen mit knallrotem Mantel, den sie als Decke nutzt, später im blauen, ihr neues Selbstbewusstsein unterstreichendes Kleid, und bei ihrem Tod im reinen Weiß. Der Protektor trägt als Mann und Gebieter eine schwere schwarze Lederkluft, erst später sieht man darunter ein helles Hemd. Der Junge tritt mit weißem Kostüm in das Leben der Eheleute, trägt in der Verführungsszene ein verheißungsvolles schwarzes großmaschiges Netz über seinem nackten Oberkörper und vor seinem Tod wieder einen weißen Kittel. Die Geschlechterrollen sind in dieser Inszenierung nur in der Form des Engels/Jungen aufgebrochen, der passend zu seiner Stimmlage als Countertenor androgyn auftritt.

An dieser Inszenierung ärgert, dass man mit vieldeutiger Symbolik geradezu beschossen wird, dadurch wirkt das Ganze auf anstrengende Weise zu gewollt künstlerisch. Trotz teilweise nachvollziehbarer Bezugnahme auf das Libretto, werden immer nur Teile davon verbildlicht, der große Rest bleibt auf der Strecke. Dazu kommt fragwürdige Ästhetik, die auf Kosten der Statisten geht: Um die Leiden des vom Landbesitzer unterdrückten Volkes darzustellen, werden am Rand der Bühne Duschen aufgestellt, unter denen die Menschen augenscheinlich sterbend zu Boden fallen. Eine unangenehme Anspielung. In einem anderen Abschnitt müssen Statisten in SM-Kleidung mit halsbrecherischen Absätzen auf der Schräge laufen. Ebenfalls unnötig. Und was das ausgestopfte Lamm in einer Art beleuchtetem Aquarium mit Bubbel-Bläschen am Rand der Bühne zu suchen hat, erklärt sich auch nicht wirklich. Wenn man der Frage nach dem Sinn nachgeht, ist man heute verloren. Man vermisst eine konzentriertere Auseinandersetzung mit dem Werk Benjamins, verdient hätte die Komposition das alle mal. Stattdessen sieht man vor lauter pseudo-intellektuellem Getue auf der Bühne nicht das Wesentliche, nämlich die unglaublich intensive Geschichte aus Macht, Liebe und Selbstfindung. Vielleicht kann man noch entschuldigend sagen: It’s Art!

Das Bühnenbild verlangt den Sängern einiges ab, man kann sogar so weit gehen und sagen, dass es geradezu „sängerunfreundlich“ ist. Die Sängerdarsteller müssen sich auf einer permanenten Schräge halten, auf einem ebenfalls schrägen Sims balancieren, die Leiter rauf und runter klettern und auf dem Laufband krabbeln. Besonders aber muss man großen Respekt für Miriam Clark als Agnés haben, die anfangs an einem der wertvollsten Körperteile wie ein Hund angekettet ist, den ein Sänger haben kann – am Hals! Ihr merkt man trotz der schlauchenden Partie keine Anstrengung an, konzentriert und mit intensiver Expressivität auch im Piano findet sie sich selbst. Zu ihrem ausdrucksstarken Sopran ergänzt sich der ätherische Countertenor von Terry Wey als Junge und Engel geradezu himmlisch, seine mit sparsamem Vibrato versehene Stimme erhebt sich zum Hörgenuss. Bariton Evez Abdulla, der sein Debüt in Bonn gibt, kommt in der Partie des Protektors etwas kehlig daher, überzeugt aber darstellerisch. Tamás Tarjányis Tenor strahlt gut hörbar als Dritter Engel und John, an seiner Seite Mezzo Susanne Blattert als zweiter Engel und Marie mit eindrucksvoller Präsenz in Spiel und Stimme.

Das Beethovenorchester unter der Leitung von Hendrik Vestmann gibt die Musik Benjamins vom ätherischem Klang bis hin zum wütend-expressiven Sound sensibel wider, allerdings gerät die Lautstärke teilweise außer Kontrolle, die darüber liegenden Gesangsstimmen werden im tutti fast übertönt.

Das gemischte Publikum ist einen Moment still – die Dunkelheit im Saal könnte ja auch eine erneute Absonderlichkeit des Regieteams sein – doch dann werden Sänger und Orchester applaudiert und mit einigen bravi bedacht. Besonderen Applaus bekommt der anwesende Komponist. Etwas gedämpfter, aber dennoch freundlich wird auch dem Regieteam honoriert. Recht schnell scheinen die Zuhörer nach nur anderthalb intensiven Stunden den Saal verlassen zu wollen, um sich bei einem Wein oder Kölsch gegenseitig ihre Meinungen vorzutragen.

Miriam Rosenbohm

Fotos: Thilo Beu