Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

Fakten zur Aufführung 

SNOWHITE
(Frank Nimsgern)
2. September 2012
(Premiere)

Theater Bonn


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Chat-Faktor


Rezensionen-Archiv

Aufführungen nach Name
Aufführungen nach Ort


 
 

zurück       Leserbrief

Finde dich selbst

Nimsgern und Felicetti haben nicht nur ihre Grimms und Walt Disney gleich dazu gewissenhaft analysiert, die angebotene tiefenpsychologische Interpretation würde Drewermann aufhorchen lassen. Geht es doch bei Schneewittchen um die Probleme rund ums Erwachsenwerden, die Unsicherheit gegenüber der eigenen Sexualität und bei der Königin in uns allen um die Angst vor dem Altwerden. Und auch Freud hätte sich vergnügt die Hände gerieben, säße er denn im Bonner Publikum. Sieben anarchoaffine Zwerge, die alles einbringen, was seine Analyse hervorgebracht hat: Ein analfixierter Schwarzer, ein ewig beischlafbereiter Kleiner, der der phallischen Phase verhaftet ist, das Orale wird notgedrungen mit Alkohol befriedigt. Für die sexuelle Ambivalenz der Pubertät steht Zwerg Transe. Alle stehen für das innere Chaos und die korrespondierende äußere Unordnung, wozu sich am Ende auch die nur scheinbar domestizierten Großen bekennen dürfen, auf dem endlosen Weg zu sich selbst. Um den es bei den Grimms wie bei Nimsgern geht. Das Leben als work in progress. Zu diesem Weg gehört auch die Lust an der Freude, das absichtslose Blödeln, Entertainment pur in zwei Einlagen als Hinweis, über dem Weg die Lebenslust nicht zu vernachlässigen, den homo ludens in sich zu bewahren, wenn Oberzwerg Minitou, der Name ist herrlich pubertäres Programm, der hinreißende Frank Felicetti, sich mit den Menschen auskennt und sie als Stimmenimitator abruft. Von Moser bis Merkel, von Reich-Ranicki bis Torjubel-Zimmermann anno 54. Oder wenn er am Ende seine Zukunft in einer Band sieht, Ähnlichkeiten mit Nimsgern sind gewollt. Seine Mitzwerge, denen er sein Potpourri macabre bei Schneewittchens Beisetzung vorträgt, könnten aus jedem Fellini-Film entstiegen sein, Bunuel und Beckett würden die vor nichts bewahrenden Schirme übernehmen, käme ihnen Nietzsche für seinen tollen Menschen nicht zuvor. Unglaublich die stimmliche Bandbreite des leitenden Zwergs, von Lindenberg bis Pavarotti. Nimsgern spielt auf der Klaviatur der Zitate, wenn er den schweigsamen schwarzen Zwerg dann doch einen Satz des Erstaunens ausstoßen läßt angesichts der Auferweckung Schneewittchens - „Leck mich!“ Thomas Mann und sein Tadzio stehen ebenso Pate wie Marcel Marceaus „Non“ in Mel Brooks Silent Movie.

Ein Musical, in dessen Texte Konjunktive und Styx einfließen, ohne Eliotsche Abgehobenheit. Höhle und Wald, keines der klassischen Motive fehlt, wenn es um das ewig Weibliche geht. Schneewitchens rotes Mieder: Symbol der Erstmenstruation. Nimsgern zitiert mit verspielter Leichtigkeit Opernmotive, die Spieglein an der Wand kehren dorthin zurück, wo sie ihren Ausgang nahmen: Orpheus und Eurydike, Cocteau und sein Kultfilm Orphée mit der Spiegelszene lassen schön grüßen. Auch SnoWhite setzt sich mit Identitätsfragen auseinander. Alles vorzüglich umgesetzt in der Inszenierung von Elmar Ottenthal. Der hat im Wortsinn zauberhafte Bilder aus China mitgebracht, die die Verknüpfung zwischen Natur und Seelenlandschaften herstellen. Wasser, Stein, sie stehen für Wandel und Ewigkeit im Ego. Die existentialistisch definiert wird, wenn im erlösenden Kuss die Ewigkeit die Zeit berührt. Die Eingangsszene, wenn ein Boxhieb den Jäger ins Reich der Träume sendet, Hofmanns Erzählungen. Das Du als der wahre Spiegel, Nimsgern bringt es auf den Punkt. Eine Märchenadaption, die als Hommage an die weibliche Sinnlichkeit gelesen werden darf, als Einspruch gegen alle Bändigungsversuche auf Kosten der Einzigartikeit des Individuums. Ein Spiel mit der gesamten Märchenwelt, wenn der Jäger zum Hänsel im Käfig mutiert, Rotkäppchen und der Wolf dürfen auch nicht fehlen. Ein frauenverehrendes, dem frigiden Marienbild abholdes Vergnügen für Auge, Kopf, Bauch und Ohr. Das mit Elmar Ottenthal einen Regisseur gefunden hat, dem es sichtlich Spaß macht, das Spektakel zu inszenieren. Der auch für die Bühne zuständig ist, ein Festival für die Sinne, Videoeinspielungen, verschwommene Traumbilder, ein Heimkino, Schiboleth für die Märchenwelt von heute. Jede der verschiedenen Raumebenen korreliert mit den Bewusstseinebenen. Die Kostüme ein Phantasierausch, den Judith Adam zu Stoff und Latex, Pailletten und dadaistischen Kreationen hat werden lassen.

Die Musik in der gewohnten Nimsgernchen Breite. Von Balladen, die denen angelsächsischer Provenienz in nichts nachstehen, über fetzige Rockmusik bis zu Bluesklängen, nichts fehlt, auch nicht ein Leitmotiv, das sich über alle Songs für die Königin durchzieht. Alles perfekt umgesetzt von der phantastischen Frank Nimsgern Group, sieben Vollblutmusiker, on stage, die alles abdecken, was zu dieser differenzierten Komposition gehört.

Sorry, aber eine prima inter pares muss hervorgehoben werden. Aino Laos, die Rockröhre in Gestalt der Queen. Magna Mater im Wortsinn, in einer zentralen Szene drei Meter hoch, mindestens, wenn sie ihr no way über die Welt des Sinnlichen ausruft. Syrische Fruchtbarkeitsgöttin, die der Jungfräulichkeit SnoWhites ein herzliches Valet hinterher ruft. Dann wieder zerbrechlich, in der Endlichkeit die Infragestellung aller Bemühungen sehend. Aino Laos zelebriert Gefühle, ihre Stimme ergreift Besitz, beansprucht und erhält Macht über den Hörer. Alle weiteren Rollen, keiner stammt aus dem Ensemble Bonn, exzellent gecastet: Ein John Davies in der Rolle des Suchenden und Gesuchten, des Erlösungsbedürftigen und Erlösers, ein Jäger mit einer unverwechselbaren Stimme, verlockend, sinnlich, männlich. SnoWhite, so bildschön wie die Königin, wird interpretiert von einer Michaela Kovarikova, deren stimmliche Anmut jeden in Bann schlägt, die mit zarten und leisen Tönen betört. Nina Alexandra Filipp gibt der Oberhexe stimmlich und tänzerisch drive. Die Tanzeinlagen aller Hexen vom Feinsten, erotische Frauenpower. Filipp mit einer Stimme, die weder in Richtung Rockqueen übersteuert, noch zu brav und mädchenhaft ist. Schön, auch deutsche Protagonistinnen in dieser Top-Musicalqualität auf der Bühne zu haben. Frank Felicetti ist nicht nur ein exzellenter Entertainer, sondern auch ein Sänger, dessen virile Stimme gerade in den Mezzoforte ihre Stärke auszuspielen weiß. Die Zwerge: Da wird gesungen und geblödelt, hier ein Breakdance, da ein Spaghat, eine Truppe, die das Zwerchfell strapaziert. Singen, spielen, tanzen, jeder beherrscht die drei Komponenten, die einen Musicaldarsteller ausmachen: Transe Maurice Stocsek, der in jedem Cage aux folles brillieren würde, Ayuk Bobga, René Buckbesch, Luwig Mond, David Schmid und Lin Verleger. Als choreografisch bestens aufgestellte Hexen erobern Sabine Lindlar als Dance Captain, Angelika Curilovam, Tatjana Jentsch, Sandra Gabriela Malik, Kateryna Morozova und Valerie Potozki das Publikum.

Die Gäste erscheinen bunt gemischt zur Saisonpremiere. Eleganz und klassische Kleidung überwiegen. Alle Generationen sind vertreten - außergewöhnlich für ein Musical. Und alle fühlen sich bestens unterhalten und angesprochen. In der Schlussrunde wird geklatscht, das ganze Theater steht, die Zugaben wollen nicht enden. Schneewittchen kann eben immer noch die Herzen erobern. Wenn die Geschichte so erzählt wird, wie sie wirklich war. Und plötzlich spricht Musical deutsch.

Frank Herkommer

Fotos: Lilian Szokody