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Fakten zur Aufführung 

DER ENTFESSELTE FIDELIO
ODER DAS BLUT DER FREIHEIT

(Klaus Weise)
21. September 2011
(Premiere 18. September 2011)

Theater Bonn im Landesbehördenhaus


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Beethoven fast ohne Musik

Kein Orchester. Keine Arien. Nein, dieser entfesselte Fidelio ist keine Oper. Es beginnt lauschig im Innenhof des vor fünf Jahren verlassenen Bonner Polizeipräsidiums. Friedlich grasen zwei weiße  Pferde. Musik erklingt. Der Extrachor der Bonner Oper marschiert in Polizistenuniformen im Kreis und singt a cappella Beethovens Gefangenenchor. Die Zuschauer schließen sich an! Der Weg führt an den Zellen vorbei in die stockdunkle Tiefgarage. Heil sei der Tag singt der Chor aus dem Finale. Dann erklingt ein Sprachgewitter. Hinter Säulen stehen Schauspieler und rezitieren Texte von der Bibel bis zu Nietzsche, von Sklavenjagden und Indianermassakern. Ein Rolltor geht auf, die hochgetunte, verzerrte Fidelio-Ouvertüre erklingt, Cabrios fahren herein, vor ihnen werden Projektionswände hergetragen, auf denen mit Waffen gefuchtelt wird. Ein zweites Rolltor öffnet sich. Das Publikum folgt dem Licht in einen anderen Innenhof, in dem friedlich Schafe grasen. Wir werden in Gruppen eingeteilt. Ich bekomme zunächst die Turnhalle zu sehen, in der Gefangenenhaltung als Dekonstruktion des Individuums vorgeführt wird, in der intensiven, teilweise akrobatischen, nie kunstgewerblichen Choreographie von Miguel Angel Zermeno. Die Hausmeisterwohnung sieht aus, als wäre sie all die Jahre bewohnt gewesen. Bunte, hässliche Teppiche auf dem Boden, Geweihe an den Wänden. Der scheußlich gewandete Schauspieler Rolf Mautz trägt eine brutale Heiligenlegende vor, die Schauspielerin Tanja von Oertzen hört ihm zu. Ein riesiges Küchenmesser versteckt sie hinter dem Rücken. Im Nebenzimmer läuft Fidelio – auf dem Plattenspieler. Man kann sich hinsetzen, zuhören, dabei ohne Ton einen Zeichentrickfilm mit Kaninchen ansehen und in Fotoalben blättern.

Danach darf meine Gruppe alleine durchs Haus strolchen. Vieles begegnet uns. Alles hat mit der Sehnsucht nach Freiheit, mit Gewalt und Unterdrückung zu tun, von Massenschlachtungen bis Berlusconi, von Mädchenhandel bis zu den Bildern von Francis Bacon, von Foltern allein durch Sprache bis zur schrecklichen Seelenlosigkeit, die die Büros ausstrahlen. Zum Schluss singen die Schauspielerinnen Susanne Bredehöft und Anastasia Gubareva Volks- und Kinderlieder - als Erinnerung an die Wärme der Sozialgemeinschaft?

Die über 40 Mitwirkenden bringen eine tolle Leistung in dieser begehbaren Installation, die Dorothea Wimmer, die auch für die Videoprojektionen zuständig ist, wunderbar ausgestattet hat. Das Licht von Thomas Roscher und die Geräusche und Samples des ehemaligen „Einstürzende Neubauten“–Mitglieds FM Einheit verleihen dem Abend zusätzliche Dimensionen. Klaus Weise hat die verschiedenen Elemente kompetent miteinander verschränkt. Manchmal lässt er allerdings zu gewollt „ausdruckslos“ sprechen, was den komplexen Texten nicht immer gut bekommt.

Unbestrittener Star des Abends ist das Landesbehördenhaus selbst. Ende der 60er Jahre für die Ewigkeit aus Waschbeton geformt, stellt es sich geradezu als Mahnmal mitteleuropäischer Bürokratie dar – Gott sei dank mit vielfältigen Ausblicken ins Leben.

Das ganze spannende Konstrukt über Unterdrückung, Freiheit und Gefangenheit im eigenen gesellschaftlichen System speist sich aus einer Quelle: Beethovens Fidelio. Die besondere Stimmung dieses Werks wird immer wieder spürbar, viele Eigenheiten von Musik und Inhalten Beethovens scheinen immer wieder auf an diesem Abend, sei es die Parteinahme für die Unterdrückten und Geknechteten oder das Ideal Natur, vielfältig gespiegelt und ironisch gebrochen etwa durch die weißen Pferde, die Schafe im Hof, frei laufende, stetig kackende Karnickel in der Hausmeisterwohnung oder einen drei Meter langen Plastikhai samt Wasserprojektion im fünften Stock.

Das Publikum reagiert im Großen und Ganzen begeistert auf die ungewöhnliche Herausforderung. Einzelne, eher brutale Stationen werden allerdings häufig gemieden, zu Gunsten eines Getränkes in der im Loungestil weiß und scheußlich ausgekleideten Kantine. Dort wird lebhaft diskutiert. Über eins sind sich die Anwesenden einig: Das Landesbehördenhaus lohnt einen Besuch! 

Andreas Falentin








 
Fotos: Theater Bonn