Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

Fakten zur Aufführung 

BLUTHAUS
(Georg Friedrich Haas)
27. September 2011
(Premiere)

Theater Bonn


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Chat-Faktor


Rezensionen-Archiv

Aufführungen nach Name
Aufführungen nach Ort


 
 

zurück       Leserbrief

Windstille

Vom Abgrund tiefsten menschlichen Leidens kannst du dich nicht mehr lösen. Das ist die erschütternde, aber glaubhaft vorgetragene Botschaft im Libretto von Händl Klaus, eingebettet in den mikrotonalen Klangteppich des Georg Friedrich Haas. Selbst, wer sich den Handlungsrahmen im Vorfeld angelesen hat, wird in den Bann des Geschehens gezogen. Von der ersten Sekunde an. Schon bei der Uraufführung bei den Schwetzinger Festspielen dieses Jahres (Eckhard Britsch berichtete darüber) weckt die Oper die Begeisterung der Kritiker. Jetzt wird die Aufführung einmalig in Bonn präsentiert. Regie führt Klaus Weise, noch Intendant des Theaters Bonn – und nach dieser Veranstaltung möchte man einmal mehr sagen: Hoffentlich doch noch länger. Er schafft einen unglaublich dichten Handlungsraum, führt die Personen mit faszinierender Präzision hindurch und widmet sich Details mit Leidenschaft. Obwohl, über Leidenschaft mag man nach dieser Oper eigentlich nicht mehr sprechen.

Trotzdem draußen ein heftiger Wind geht und alle Fenster offen stehen, ist es im Haus windstill. Hier hat jede Bewegung aufgehört, jede Entwicklung stagniert. Studentin Nadja versucht halbherzig, das Haus ihrer Eltern nach deren Tod abzustoßen. Ein Besichtigungstermin mit Makler Freund entwickelt sich zu einem lustigen Happening, bis die „lieben Nachbarn“ für Klarheit sorgen: Die Mutter hat den Vater umgebracht, weil sie nicht mehr mit dem Missbrauch der Tochter klar kam. Seither geistern die Eltern – nur für Nadja sicht- und hörbar – durch das Haus. Jeder Versuch Nadjas, sich von ihrer Vergangenheit abzulösen, scheitert. Letztlich bleibt sie allein im Haus zurück, zufrieden in der Erkenntnis verharrend, dass sie in dieses Haus gehört, mit seiner und ihrer Vergangenheit.

Dieses Haus, das Martin Kukulies da auf die Bühne stellt, hat es in sich. Halbtransparente Plexiglaswände erlauben eine scheinbare Transparenz; eine geniale Architektur, durchdacht bis ins letzte, braucht keinen Umbau – das Verschieben zweier Wände reicht. Martin Roscher beleuchtet von vorn und von hinten, um so drastische Effekte zu erreichen. Dorothea Wimmer und Anna Behrend kleiden die Protagonisten in Kostüme, die ihre Charaktere unauffällig unterstreichen.

Musik und Regie bauen in Einklang miteinander Spannung auf, das eine ohne das andere undenkbar. Die perfekte Symbiose, die nur noch die Darsteller vervollständigen können. Und die funktionieren (fast) nur, weil sie im Team arbeiten. Unfassbar allerdings, was Otto Katzameier als Nadjas Vater mit seiner Stimme veranstaltet. Scheinbar tonlos formuliert er Töne von schier unendlicher Länge, singt gar ein Rezept, dass es einen gruselt. Gruseln ist überhaupt seine Stärke: Wie er als Geist immer wieder auftaucht – das wirkt beinah noch stärker als seine gesangliche Leistung. Faszinierend. Mutter Natascha, von Ruth Weber beseelt, besticht durch vibratofreie Töne in kaum geahnten Höhen; darin steht ihr Sarah Wegener als Spezialistin für Neue Musik und Darstellerin von Nadja in nichts nach, allerdings begeistert sie zusätzlich durch eine zurückgenommene Schauspielkunst, die ihr die Rolle wie auf den Leib geschneidert erscheinen lässt. Countertenor Daniel Goger lässt sich als Makler Alex Freund auf Stimmhöhen ein, die zunächst fast komisch erscheinen, letztlich aber nur noch über seine Sangeskunst staunen lassen. Der Rest ist Teamarbeit. Ohne Ausfälle spielen sich Tatjana Pasztor, Philine Baker, Maria Munkert, Hendrik Richter, Heide Simon, Roland Silbernagl ebenso die stimmlichen Bälle zu wie Günter Alt, Stefan Preiss, Rolf Mautz und Wolfgang Rüter. Herrlich, wie sie allesamt die unterschiedlichen Kaufinteressenten charakterisieren beziehungsweise mit scheinbarer Leichtigkeit das Haus ins endliche Verderben stürzen. Eine Sonderrolle spielen Jasmin Hörner, Johanna Rosskopp und Alexandra Samouilidou, die die Söhne synchronisieren – mit erdentrückten Stimmen.

Garrett Keast übernimmt die Nachfolge von Stefan Blunier, der die Uraufführung dirigierte, als musikalischer Leiter mit Bravour. Zu Gast ist das SWR-Radio-Sinfonieorchester und lässt sich konzentriert und auf den Punkt von Keast führen, der auch in jedem Moment die Sängerinnen und Sänger durch die höchst anspruchsvollen Passagen Haas’scher Kompositionskunst begleitet. Hier geht es nicht mehr um Musik und Gesang, hier geht es darum, Stimmung zu erzeugen, Gefühle im Hörer wachzurufen – und Keast gelingt das mit Orchester und Bühnenakteuren so sehr, dass auch Zweifler an der Neuen Musik kapitulieren müssen.

Das Publikum reagiert mit ungewohnt stiller Konzentration. Plötzlich scheinen sogar Hüsterchen und wichtige Zwischenbemerkungen vergessen zu sein. In der psychologischen Dichte der Handlung gibt es selbst für hartgesottene Verweigerer plötzlich keinen Grund mehr, die Spannung zu durchbrechen. Wie Nadja versucht, sich aus der Missbrauchssituation mit dem Verkauf des Hauses zu befreien, sich aus der Umklammerung des schon toten Vaters nicht lösen kann und sich letztendlich in ihr Schicksal ergibt – das ist schockierend, aber nachvollziehbar. Haas, Klaus und Weise haben hier neue Denkansätze geschaffen, die weit jenseits des Boulevardjournalismus zünden. Ohne auch nur einmal den moralischen Zeigefinger zu erheben, finden sie sich in brillanter Weise in die Opferrolle ein, die Maßstäbe setzen wird. Zum Glück für die Opfer, von deren Existenz wir bislang nur in Einzelfällen erfahren haben. Das kann Oper sein, wenn es nicht um l’art pour l’art geht.

Michael S. Zerban






 
Fotos: Thilo Beu