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Fakten zur Aufführung 

VORTEX TEMPORUM
(Anne Teresa De Keersmaeker)
3. Oktober 2013
(Premiere)

Ruhrtriennale,
Jahrhunderthalle Bochum


Points of Honor                      

Musik

Tanz

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Kreisen, zirkeln und der Klang der Spektralmusik

Die Ruhrtriennale im Revier lockt Zuschauer in die charmant bis pragmatisch-rustikal umfunktionierten Industriedenkmäler der Zechenregion. Intendant Heiner Goebbels und sein Team haben einen umfassenden Festival-Strauß zusammengestellt: Musiktheater, Bildende Kunst, Installationen, Film, Konzerte, Theater, verschiedene Programme für Kinder und der zeitgenössische Tanz finden traditionell bei der Ruhrtriennale zusammen. Es wird ein enormer Aufwand betrieben, dem Publikum die Hürde einer weiten Anreise zu nehmen. Shuttlebusse verbinden immer wieder verkehrstechnisch günstige Knotenpunkte der Region mit den Veranstaltungsorten; das quirlige Getümmel der „Ruhris“ auf der Autobahn A40 verschmilzt mit den Kulturpilgern, den Arrivierten, den manchmal verquast wirkenden Kulturschaffenden des Umkreises.

So auch an diesem Abend in der Jahrhunderhalle Bochum: Aus einem gefühlt schon seit Jahren bestehenden Baustellen-Hindernis-Pfad schält sich die ehemalige Gebläsemaschinenhalle heraus und empfängt seine Pilger mit offenen Armen. Die Premiere des Stücks Vortex Temporum ist nicht bis zum letzten Platz ausverkauft, was trotz der Weitläufigkeit des Gebäudes nicht ins Gewicht fällt. Alles ist konzentriert auf das Bühnengeschehen: Dort haben sich die Tänzerinnen und Tänzer von Rosas, der Tanzkompagnie von Anne Teresa De Keersmaeker versammelt, und treffen auf das belgische Ensemble Ictus, spezialisiert auf zeitgenössische Musik.

De Keersmaeker zieht Inspiration aus Werken der zeitgenössischen Musik, sieht sich ihr gegenüber als zeitgenössische Choreographin aber auch verpflichtet: Ich möchte diese Musik ans Licht holen, sie gegenwärtig und zugänglich machen. Ich will dem Publikum nichts beibringen oder ihm eine Musik verständlich machen, die es vielleicht beim ersten Hören nicht mag. Konsequenterweise holt sie so mit Griseys Vortex Temporum ein einschlägiges Werk der Spektralmusik auf die Bühne und hat mit Ictus einen kongenialen Komplizen gefunden: Unter der Leitung von Georges-Elie Octores erklingen harmonische Spiralen aus Obertönen, deren Minimalismus vibrierende Räume entstehen lässt. Den Musikern sind die Tänzer zugeordnet. So lässt sich der Pianist Jean-Luc Plouvier an einem der ersten gemeinsamen Momente der Musik- und Tanzensembles von seinem Klavierhocker drängen. Ein Tänzer übernimmt kurz sein Spiel und ein fliegender Wechsel in die Ausgangssituation folgt. Die Bühne ist dunkel gehalten, Neonlicht von oben gibt den Ton an. Das Lichtdesign stammt von Luc Schaltin und der Choreografin selbst. Auf dem Boden der Bühne sind zahllose riesige Kreise mit Kreide und Zirkel gezeichnet. Die dunklen Hosen und Shirts aller Beteiligten verantwortet Anne-Catherine Kunz mit Liebe zum Detail: Aus der auf den ersten Blick tristen Bekleidung blitzen knallig bunte Hoseninnentaschen; pinke Socken luken aus den schwarzen Turnschuhen der Tänzer; ein türkisfarbenes Haargummi passt zu den Socken. Ansonsten herrscht der antizipierte Rosas-Minimalismus.

Die musikalischen Bewegungsmuster in Vortex laden zu Kreisen und Spiralen im Tanz ein, sagt De Keersmaeker und lässt ihre Tänzer mit Einflüssen, die an Tai-Chi anlehnen, im Kreis rennen, gehen, kleine und große Gesten ausführen, sie interagieren mit der Musik. Immer wieder entdeckt man sich gegenseitig versichernde Blicke der Beteiligten. Die Achtsamkeit ist omnipräsent, und der Zuschauer wird in diesen verschworenen Bann mit hinein gezogen. Nicht zuletzt, weil es keinen Sicherheitsabstand zu den ersten Stuhlreihen gibt. Die Tänzer treten ganz nah heran an die Zuschauer, sind zum Greifen nahe. So nahe, dass die Zuschauer in der ersten Reihe mit der Präsenz teilweise überfordert sind: Ein Herr fordert seine Partnerin auf, ihre Füße einzuziehen – der wuchtige Flügel wird bedächtig durch den Raum geschoben und reiht sich ein in das Kreisen und Zirkeln. Pragmat, wer in diesem Moment an seine Füße denkt. Aber so ist das nun mal bei einem Festival, dessen Publikum auch wegen des guten Tons daran teilnimmt und sich seiner Finanzkraft durchaus bewusst ist. An diesem Abend kann man es immer wieder miterleben: die Arrivierten zirkeln ihren Kreis ab, bestimmen die Grenze. Das Ende des Abends kommt auf leisen Sohlen angeschlichen: Alles klingt aus, der letzte Ton verhallt, die Bewegungen ruhen, das Licht dimmt ab.

Eine gefühlte Ewigkeit setzt ein, bis das Publikum den geforderten Einsatz bemerkt: Der Schlussapplaus ist herzlich, warm, zufrieden. Man hört sie raus, die Rosas-Fans und die Gleichgesinnten, die Applaus spenden. Für einen Abend, der vor allen Dingen eines in den Mittelpunkt stellt: Achtsamkeit.

Jasmina Schebesta

 

Fotos:
Anne Van Aerschot, Herman Sorgeloos