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Fakten zur Aufführung 

MARKETPLACE 76
(Rombout Willems/Maarten Seghers/ Hans Petter Dahl)
8. September 2012
(Uraufführung
am 7. September 2012)

Ruhrtriennale,
Jahrhunderthalle Bochum


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Die Hoffnung trägt Orange

Dunkel und wüst sind die Stoffe und Motive, die Jan Lauwers mit seiner Needcompany auf die Bühne stellt. Katastrophen, Tote, Morde und Selbstmorde, sexueller Mißbrauch sind die dem aktuellen Weltzustand entnommenen Ingredienzen, die auf den Zuschauer auch in dem etwa 150-minütigen neuen Stück in großer Dichte hereinbrechen. Dass man es dennoch sehen möchte oder sogar liebt, liegt an der ungemein lockeren, leichten Erzähl- und Darstellungsweise sowie an den faszinierenden Darstellern - allesamt Sänger, Tänzer, Musiker und Schauspieler zugleich. Marketplace 76 ist eine Koproduktion der Needcompany mit der Ruhrtriennale 2012, dem Burgtheater Wien und dem Hollandfestival Amsterdam. Nach dem bejubelten Start in der Jahrhunderthalle in Bochum ist es Anfang Oktober in Wien zu sehen und danach international auf Tournee.

Wie bei dem Stück The Deer House aus dem Jahr 2008 ist der Ort der Handlung isoliert, ideal gewählt für einen Versuchsaufbau mit optimalen Demonstrationsqualitäten. In Hirschhaus agiert eine Lebens- und Theatergemeinschaft, in Marketplace ist es eine Dorfgemeinschaft: "Ein kleines Dorf am Fuße eines Berges. Abgelegen. Hier herrscht Armut. Die Menschen sind bedrückt." Es ist ein Kollektiv, über das Unheil und Leid hereingebrochen ist und das damit hadert, wie damit umzugehen ist, welches Verhalten angemessen ist und ob es eine wirksame Form von Trauerarbeit gibt. Dies ist die zweite Parallele zum Deerhouse, wo die Gruppe mit dem unfassbaren, plötzlichen Tod eines Freundes und Kollegen konfrontiert ist.

Mittel des Brechtschen Theaters – Marketplace 76 nennt sich explizit nach Brecht im Untertitel "Episches Theater"– sind essentieller Kern des Theaterspiels der belgischen Company: "Ich zeige die Illusion, welche Theater ist. Ein Spiel, in dem gespielt wird, dass es gespielt ist", beschreibt Jan Lauers seine Strategie. Und Marketplace 76 zieht durchaus kunstvoll alle Register dieser Theaterform: "Stellen Sie sich vor", beginnt der Conférencier - Jan Lauwers selbst - in direkter Anrede an den Zuschauer, um dann fortwährend Personen vorzustellen oder den Fortgang der Handlung zu erläutern. Übertitel beschreiben die Szenen, Songs und Moritaten. Chöre und Tanz brechen den Handlungsverlauf, oft auch als poetisches Einsprengsel in den überwiegend brutalen Erzählstrang. So gibt es nicht den Ansatz einer Identifikationsmöglichkeit mit Tätern oder Opfern, über- deutlich bekommt man vorgeführt, dass Theater eben "bloß" Theater ist. Das etwas präsentiert wird, was von außen betrachtet werden soll. Die "'Dorfbewohner" haben ihren Auftritt: Kommissar Kurt d' Outrive, seine Gattin Antoinette, der Metzger Benoit de Leersnyder mit Frau Anneke, Bäckerin Tracy mit den Kindern Pauline und Oscar, der Tontechniker Karel Tuymans und der Klempner Alfred Signoret mit seiner Frau Kim-Ho und Tochter Michèle. Als Outcast kommt hinzu ein Straßenfeger. Die Gemeinschaft ist um den Venus gewidmeten Dorfbrunnen auf dem Marktplatz versammelt, um den Jahrestag einer Tragödie zu begehen. Anneke hatte im Jahr zuvor durch Ungeschick ein Unglück ausgelöst, bei dem durch eine explodierende Gasflasche viele Dorfbewohner verletzt und getötet wurden. Immer noch ratlos um die Sinnlosigkeit des Geschehens, die angemessene Form des Trauerns und der Verarbeitung, zeigt sich eine orientierungslose Gesellschaft, die auch in der Trauer nicht wirklich zusammenfindet. Schnell entgleitet die Veranstaltung, individuelle Konflikte unter Ehepartnern brechen auf, selbst die Tontechnik der Gedenkveranstaltung arbeitet nicht störungsfrei. Und ebenso schnell wird dem vergangenen Elend aktuelles hinzugefügt: Bäckersohn Oscar, dargestellt durch eine Puppe, fällt aus dem Fenster und stirbt. Seine Schwester Pauline wird vom Klempner in die Katakomben unter den Brunnen gesperrt und 76 Tage lang missbraucht, die Mutter Tracy bringt sich um vor Gram ob der verlorenen beiden Kinder. Am Ende hängt der Klempner gelyncht im Bühnenhimmel. Die Gemeinschaft debattiert nun über die Mitschuld von Kim-Ho, der Ehefrau des Täters. Als Mitwisserin ist sie auch Mittäterin, andererseits ermöglicht sie Paulines Flucht nach den 76 Tagen. Motiviert ist ihr Schweigen dadurch, dass durch Paulines Missbrauch sexuelle Übergriffe des Vaters auf die Tochter Michèle unterbunden werden. Die Dorfgemeinschaft beschließt, Kim-Ho ebenfalls 76 Tage einzusperren, mit der Option, dass jeder Dorfbewohner sie früher freilassen kann, wenn er der Meinung ist, dass das zu rechtfertigen sei. In der Haft wird Kim-Ho zur willfährigen Prostituierten für die Männer der Dorfgemeinschaft, die sich bereitwillig – "Ich Männer liebe und Sex auch. Fantastisch!" - hingibt. Am Ende gebiert Kim-Ho ein riesiges, vielvätriges Kind: Amor. Die Frau als heilige Hure und Urmutter und zugleich Sinnbild eines affirmativen Lebensprinzips: so interpretiert diese Frauenrolle das Programmheft. Wenn hier nicht eine Männerphantasie entgleist ist.

Noch während der Trauerfeier schwebt der Flüchtling Squinty theaterwirksam in einem Boot über der Dorfgemeinschaft ein. Als Bootsflüchtling kommt er an, wird von den Bewohnern misstrauisch beäugt und schließt sich gleich dem Straßenfeger an, dem er wie ein Zwilling gleicht. Gekleidet in Orange wie der Straßenkehrer bilden beide nun die Keimzelle einer Gegenwelt, in der das pralle Leben mit fetziger Musik und tollen Parties spielt. Bei ihnen tauchen die toten Dorfbewohner wieder auf und auch die misshandelte Pauline wird fest in die Gruppe integriert. Antoinette, die lebensfrohe und von den Dorfstrukturen genervte Gattin des Kommissars, entflieht in die neue, stets größer werdende Gemeinschaft und wechselt demonstrativ die Farbe ihres Abendkleids. Orange als internationale Farbe der Outcasts, der Unterdrückten, Misshandelten und Missachteten. Orange ist die Farbe der Straßenkehrer der europäischen Städte, das "neue Symbol für Europa", wie Lauwers in einem Interview zur Produktion meint, und auch die Farbe der Kleidung der Gefangenen in Guantánamo. Im Laufe der Inszenierung gewinnt Orange immer mehr Macht. Trug es zuerst nur der eine Straßenkehrer, kleidet es am Ende die halbe Besetzung. Orange als Gegenbild zur matten und dunkel getönten Welt der Dörfler.

Großer Beifall und standing ovations des deutlich internationalen Publikums in der Bochumer Jahrhunderthalle für ein so lässig wie virtuos dargebrachtes, problemgesättigtes wie heiteres, in den Schlussfolgerungen sicherlich fragwürdiges Stück.

Dirk Ufermann

Fotos: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale