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Fakten zur Aufführung 

Europeras 1 & 2
(John Cage)
21. August 2012
(Premiere am 17. August 2012)

Ruhrtriennale,
Jahrhunderthalle Bochum


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Zu John Cages 100. Geburtstag eröffnet und inszeniert Intendant Heiner Goebbels die Ruhrtriennale 2012 mit seiner 1987 in Frankfurt uraufgeführten Oper Europeras 1 & 2. Cages Oper? Das Wortspiel, das der Titel Europeras suggeriert, enthält zunächst die regionale Anspielung auf die Wiege aller Opern: Europa. Wenn man es laut ausspricht auch noch die persönliche Variante: Your Operas - Eure Opern. Cage äußerte sich einmal zu seinem Projekt: „For 200 years the Europeans have sent us their operas. Now I am returning them all of them.“ Und tatsächlich wird man mit so viel und zugleich so wenig Oper wie noch nie konfrontiert. Aus dem durch das chinesische Orakelbuch I Ging geprägte zufällige Auswahlprinzip der Opernbausteine und genau gesteckte zeitliche Vorgaben, ergibt sich eine überwältigende polytonale und bilderreiche Collage aus über 200 Jahren Operngeschichte, deren Konzept, Entstehung und Ausführung im ausführlichen Programmheft umfassend erläutert werden.

Es ist nur natürlich, dass der Operngänger automatisch versucht, sein Wissen einzusetzen, um Bekanntes zu erkennen. Blitze von Tonfolgen und Arien huschen vorüber, man versucht, sie aufgeregt zu greifen, doch schon sind sie vorbei, ersetzt von einem großen Ganzen. Also bleibt einem nicht anderes übrig, als vorerst alles auszublenden, sich zurückzulehnen und nur aufzunehmen. Dennoch ist es keine Negation der Oper und auch keine Dekonstruktion – vielmehr eine augenzwinkernde Liebeserklärung an das kollektive Gedächtnis der Oper.

Die Jahrhunderthalle als Spielort scheint für Europeras 1 & 2 mit ihrer industriellen Kulisse eine natürliche Aktualisierung zu sein, die man modernen Inszenierungen oft erzwingt. Sie bildet den Kontrast zu den historisierenden Operntopoi, mit denen Cage und Goebbels den Zuschauer bombardieren. In den bewusst offenen Seitennischen ziehen sich die Sänger um, werden geschminkt und von dort kommen die Statisten, Techniker und Bühnenhelfer. Der ganze Prozess, um die Entstehung einer oder hier von 138 Opern, wird mit einbezogen.

Goebbels und sein Team haben eine großartige Leistung vollbracht, um Cages Konzept möglichst getreu nachzukommen. Dabei schöpft das Regieteam aus einem riesigen Fundus von Klischees, Themen und Bildern der Operngeschichte. Die Figuren agieren in der Personenführung wie von einander isoliert programmierte Hologramme aus verschiedenen Dimensionen und Zeiten. In den Darstellern addieren sich die Bausteine aus Kostüm, Bühnenaktionen, Staging und Emotionsgehalt der Arie, wobei diese nicht zueinanderpassen müssen. So muss sich ein Bass auch mal gefallen lassen, im Kostüm der Königin Elisabeth aufzutreten. Auffallend ist die fehlende Interaktion, die aber nur logisch ist. Denn wenn keine Handlung, gibt es auch keine Kommunikation. Hin und wieder scheint es, ein ausgestreckter Arm, eine Geste oder ein Blick gelte dem Bühnenpartner, was sich jedes Mal als visuelle Täuschung entpuppt. Obwohl vom Publikum erwartet, ist die hier fehlende Kommunikation eben das ad absurdum geführte gekünstelte Gebaren der Opernsänger der vergangenen Jahrhunderte. Das was sie sonst in modernen Inszenierungen kaum mehr dürfen, nämlich starr sein, theatralische Gesten ausführen, schmachtende Blicke aus längst vergangenen Zeiten ins Leere werfen, leidenschaftlich auf ein Sofa herniedersinken oder mit gezücktem Degen die Bühne entlang zu rennen, wird von den Darstellern verlangt. Und das unabhängig vom Inhalt des Gesungenen. Diese klare Trennung der Elemente ist konsequent, wenn auch auf Dauer anstrengend, da man immer versucht, trotzdem eine Handlung oder Interaktion zu finden.

Die Beliebigkeit und Unabhängigkeit der Elemente untereinander erstreckt sich auf alle Bereiche der Oper: Maske, Statisterie, Requisiten, Kostüme, Bühnenbild, Übertitel, Bühnentechnik, Projektionen und Licht und natürlich vor allem die Musik. Während das Ohr es schwer hat, die verschiedenen tonalen Elemente aufzudröseln, wird das Auge nicht müde, sich an der lebendigen Bühne satt zu sehen, die immer wieder changiert, protzt, schmeichelt und berührt. Bühnenbild, Licht und Video stammen von Klaus Grünberg, der geniale Umsetzungen aus dem Bildrepertoire der Operngeschichte schafft und diese verschiedensten Kulissen mit modernen Mitteln in der Halle einsetzt. Auch die Kostüme von Florence von Gerkan sind der Operngeschichte entnommen. Neben Venezianer, Don Giovanni, Rokoko und Maria Callas finden sich auch metaphorisch zu deutende Kostüme wie die An- und Ausziehpuppe. Sie haben mit dem Bühnenbild gemein, dass sie umwerfend schön ausgeführt sind und trotz ihres eindeutigen Charakters ein großes Interpretationsspiel offen lassen.

Die Orchesterstimmen sind zufällig ausgewählte Fragmente aus urheberrechtlich nicht mehr geschützten Opern. Sie wurden für die Bochumer Inszenierung so übernommen, wie sie von Cage für die Uraufführung arrangiert wurden. Das 30-köpfige Festspielorchester ist bewusst von der Szenerie getrennt und über dieser auf den Brücken und Galerien platziert. Es gibt keinen Dirigenten, der das Orchester leitet, lediglich die zeitlichen Vorgaben Cages sind Angaben, an die sich die Musiker halten können. Die Musikfragmente lassen sich nur in seltensten Momenten selektieren, dominierender sind die Momente, in denen die so genannten truckeras - so nennt Cage die Musik, die wie ein vorbeifahrender Truck klingt - aufbrausen. Ob die so entstandene Musik gefällt, ist aufgrund der Umstände kaum zu beurteilen, sicher ist den Musikern aber die Hochachtung des Publikums für ihre pointierte Leistung.

Ähnliches gilt für die Sängerdarsteller. Einzelleistungen sind – neben dem allen gemeinen akkuraten Spiel – nur sporadisch auszumachen, zu selten kann man Phrasen einer Arie lang genug genießen. Trotzdem kann man die aus verschiedensten europäischen Ländern und Stimmfächern kommenden zehn Sänger als allesamt mehr als talentiert einordnen: sie haben sich selber ausgesucht, welche Arien sie singen, und zeigen so ein breites Spektrum ihres Könnens und unterschiedlichster Technik. Die Schwierigkeit, eine Arie zu performen und währenddessen gegen die gesamte Operngeschichte anzusingen, zeugt von enormer musikalischer Disziplin. Hervorzuheben sind Tenor Robin Tritschler, dessen von Leichtigkeit bestimmte und unglaublich klare Stimme fast immer auszumachen ist, und Karolina Gumos, deren Mezzosopran von kaum fassbarer Samtigkeit geprägt ist. Aber auch die anderen Sänger überzeugen auf ganzer Linie. Es ist doch zu schade, dass man diese großartigen Sänger nicht in jeder angesungen Oper erleben darf.

Es sind gefühlte 40 Grad in der Jahrhunderthalle. Zum polyphonen Gewirr kommen das rhythmische Gewedel von flatternden Programmheften und leichtes Gestöhne, durch den Sauerstoffmangel bedingt, der in der zweiten Oper bereits einen Teil des Publikums aus der Halle treibt. Nachdem vor der Pause der Applaus noch kräftig aufbraust – kurioserweise bekommen die Musiker nicht wie gewöhnlich mehr Applaus als die Statisterie, gerät der Schlussapplaus nur noch matt, zu entkräftet machen die Hitze und auch die vielfältigen visuellen wie auditiven Eindrücke.

Nach diesem vorgehaltenen Spiegel Cages hat man eigentlich nur zu einem Lust: Mal wieder in die Oper zu gehen.

Miriam Rosenbohm

Fotos: Wonge Bergmann