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Fakten zur Aufführung 

TAUBERBACH
(Alain Platel)
6. März 2014
(Premiere am 4. März 2014 )

Hebbel am Ufer, Berlin


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Tanz auf der Mülldeponie

Im Januar feierte in den Münchner Kammerspielen Tauberbach, das neueste Tanzdrama von Alain Platel und seiner Compagnie Les ballets C de la B. seine erfolgreiche Premiere und wurde prompt zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Schon vorher allerdings hatte das Hebbeltheater HAU ein dreitägiges Gastspiel im März verabredet, so dass die Hauptstädter dieses Stück unvorhergesehen gleich zweimal in kurzer Zeit besichtigen können. Es ist – um es vorwegzunehmen – kein leicht konsumierbares Werk. Denn ein Markenzeichen des belgischen Choreografen, der ursprünglich Heilpädagogik und Psychologie studierte, ist die künstlerische Auseinandersetzung mit gesellschaftlich Außenstehenden. Prägend für diesen Ansatz war die therapeutische Arbeit mit schwerbehinderten Kindern, bei der Platel begann, sich mit der Frage nach dem Sinn von Dasein auseinander zu setzen. Demzufolge spielen Außenseiter, Krüppel und Gestrandete eine wesentliche Rolle in seinen Kreationen, was beim Publikum immer wieder zu Kontroversen, meist aber positiven Reaktionen führt. Als Kontrast zu den ausgestellten leidvollen Verhältnissen benutzt Platel in seinen Inszenierungen klassische Musik, von Mozart etwa in der 2004 ebenfalls für das Theatertreffen ausgewählten Produktion Wolf. Oder von Bach, dessen Kantaten er in Iets op Bach als Klangfolie für seine Inszenierung über Menschen in einem Elendsviertel wählte. Auch in Tauberbach spielt Bach eine Rolle. Diesmal allerdings als Teil einer vom Band kommenden, schrägen Musikcollage von Steven Prengels, die neben Dschungelgeräuschen und einigen Bachbearbeitungen auch einen Performance-Mitschnitt miteinbezieht, in dem ein Chor von Gehörlosen Bach singt. Daher stammt auch der Titel. Tauberbach bedeutet tauber Bach. Und so wie die Choräle dieser Aufnahme nicht rein und homogen, sondern verzerrt und deformiert klingen, so sind es auch die Figuren des Stücks. Im Mittelpunkt steht eine schizophrene Frau, deren Leben in dem brasilianischen Dokumentarfilm Estamira, von dem sich Platel inspirieren ließ, porträtiert wurde. Sie haust auf einer Müllhalde, beeinflusst von den Symptomen ihrer Krankheit. Die Bühne, die das Ensemble gemeinsam entwickelt hat, ist übersät mit Haufen bunter, alter Kleidung. Man hört Stimmen aus dem Off und man sieht neben Estamira fünf auf verschiedene Weise beschädigte Menschen. Vielleicht sind es ihre personalisierten Geräusche im Kopf, vielleicht aber auch reale Wesen, die zunächst von Bündeln verdeckt sind und sich erst allmählich aus ihnen herausschälen. Dann beginnt eine Reihe von meisterhaft choreografierten Interaktionen der Annäherung und Kontaktaufnahmen, die von Bérengére Bodin, Elie Tass, Lisi Estaras, Romeu Runa und Ross McCormack mal komisch, mal sinnlich, teils sexuell drastisch, teils zärtlich, tänzerisch aber immer brillant, vorgeführt werden. Beispielsweise der wie ein Pfau herumstolzierende Runa, der sich mit staunenswerter Körperbeherrschung authentisch wirkende, spastische Bewegungen angeeignet hat oder McCormack in einem hochvirtuosen Duett mit einem Mikrofon. Estamira selbst wird von der Schauspielerin Elsie de Brauw verkörpert, die sich auch im Chaos ein Stück Würde bewahrt hat. Zunächst agiert sie völlig abgeschottet von den anderen, doch allmählich wird sie in die Gruppe integriert und lässt sich aufnehmen. Fast am Ende kommt es zu einem kollektiven Tanz von großer Sogkraft und man hört den Satz „I’m happy“. Und genau das scheint Platel zeigen zu wollen: dass man auch in einem nach unseren Maßstäben beschädigten Leben Glück empfinden kann.

Dem starken, lang anhaltenden Beifall nach zu urteilen, teilt der Großteil des Publikums diese Empfindung. Auf jeden Fall aber zeigt es sich einer Inszenierung gegenüber aufgeschlossen, die jedem Raum gibt für seine eigenen Interpretationen und Assoziationen.

Karin Coper

 

Fotos: Julian Röder