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Fakten zur Aufführung 

AMERICAN LULU
(Olga Neuwirth)
30. Juni 2013
(Premiere am 30. September 2012)

Komische Oper Berlin


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Eisgekühlt

Alban Berg hat seine Oper Lulu nicht mehr zu Ende komponieren können. Er hinterließ nach seinem Tode 1934 zwei fertige Akte und eine Reihe von Skizzen. Erst nach Ende des Copyrightschutzes ergaben sich für Komponisten Möglichkeiten, Bearbeitungen und Fortsetzungen zu versuchen, von denen wenige überzeugten. 1979 kam in der Operá de Paris eine von dem Österreicher Friedrich Cerha heimlich und ohne Wissen von Bergs Witwe erstellte Gesamtfassung zur Uraufführung, die nach Verhandlungen mit Helene Berg neben der zweiaktigen Urfassung von ihr akzeptiert wurde. Die Komische Oper Berlin brachte 1980 Cerhas 3-Akt-Fassung zur deutschen Erstaufführung. Beide Fassungen orientieren sich eng an Frank Wedekinds Lulu-Tragödien, in denen er Lulu als „ein Prachtexemplar von Weib“, als Ur-Verführerin zeichnet.

Vor diesem Hintergrund schafft Olga Neuwirth eine Neuinterpretation der Figur der Lulu. Sie sieht Lulu nicht als „femme fatale“ oder Männer mordenden Vamp, sondern in der Opferrolle der von Männern beherrschten Welt. Lulu ist nicht Ursache, sondern Opfer dieser Männerwelt mit alle ihren Verdrehungen, Unterwerfungen, Demütigungen, die von Männern ausgehen. Neuwirth setzt die Männerphantasien über und mit Lulu nicht fort, sondern konfrontiert sie mit einer lesbischen Anti-Männerphantasie, die in Gestalt der Eleanor im dritten Akt als dunkelhäutiger Nachbildung der Billie Holiday auftaucht. Im Verständnis von Neuwirth ist letztlich nicht Lulu, sondern Eleanor als selbstbestimmte Frau die Heldin des Stückes in der Männerwelt der Lulu. Mit einem Paukenschlag tritt sie auf: Im langen Pelz, mit wallendem Haar, auf High Heels, versteht sich: Lulu, Inbegriff weiblicher Verführungskunst und Spezialistin im Verbrauch von Männern. Der Tod des sie verehrenden Professors vor ihren Augen berührt sie nur peripher…, leichte Jazzmusik. Ob es ihr früherer Ziehvater Dr. Bloom, dessen Sohn Jimmy, der Fotograf oder der Athlet ist, alle fliegen auf sie wie die Motten zum Licht und verbrennen sich, ohne dass Lulu eine Rührung zeigt. Mit kühlem Sopran, der in seinen klaren Koloraturen durchaus schneidend werden kann, bei zerrissener bis schriller Musik erliegt einer nach dem anderen dem Spiel dieser Lulu mit ihrem liebsten Spielzeug, dem Mann. In einer Bar tritt Eleanor als Table-Tänzerin auf und zeigt Interesse an Lulu, die sich prompt von den vor Kraft strotzenden Athleten ablenken lässt, dann fällt ein Schuss. Nach einer angedeuteten Gerichtsszene wird Lulu eingesperrt und tritt völlig verändert nach Jahren im Gefängnis wieder auf, endlich frei „für einen kleinen Whisky“. Noch immer besitzt sie die Fähigkeit, sogar ihren Ehemann zu umgarnen oder die Männer, die vor weißem Hintergrund auf Barhockern aufgereiht auf ihre Chance warten, zu bezirzen. In einem bewegenden Duett geraten Eleanor und Lulu trotz lesbischen Interesses aneinander und spielen mit großer Intensität und Überzeugung ihre Zerrissenheit. Nachdem Lulu weitere Freier verbraucht hat, fragt sie sich, vor einem großen Spiegel sitzend, selbst und das Publikum What´s wrong?. Interessant und ein gelungener Regieeinfall: Im dem Spiegel begegnet das Publikum sich selbst.

Mit Marison Montalvo hat Serebrennikov eine Lulu-Darstellerin zur Hand, die stimmlich und darstellerisch hohen Ansprüchen genügt. Mit Spielintensität und einem souveränen, sicheren Sopran zeigt sie sehr authentisch die Seiten, die sie für Männer so anziehend macht. Genau so sicher und souverän überzeugt sie aber in ihrer inneren Unabhängigkeit, die sie dazu befähigt, jederzeit das Handlungsheft in der Hand zu halten: Männer, wenn die Zeit gekommen ist, werden abserviert. Den weich-feministischen Gegenpart zeigt Della Miles als Eleanor. Ihr geschmeidiger Mezzosopran bildet gesanglich Ergänzung und Kontrapunkt zu Lulu, ihre Auftritte zeigen weichere Konturen als die eher harten Auftritte der Lulu. Den beiden Frauen gegenüber steht mehr als ein Dutzend auswechselbarer Männer, unter denen sich Lulu immer wieder neue Ziele sucht, indem sie sich finden lässt. Der schwarze Freund und Ehemann Clarence, den Jacques-Greg Belobo mit kontrastierendem Bass spielt, taucht immer dann auf, wenn es für Lulu eng wird. Er scheint der einzige altruistische Mann in diesem Ensemble zu sein. In dieses Chaos von immer wiederkehrenden Versuchen und Zurückweisungen hinein ertönen aus dem Off Passagen der amerikanischen Verfassung und Zitate aus Dokumenten der Bürgerrechtsbewegung. Sie stellen die Verbindung des Bühnengeschehens zu den Grundrechten jedes amerikanischen Bürgers, eben auch der Frauen zum civil rights movement her. In bewegendem Quartett treffen sich die Protagonisten und beklagen die immer noch fehlenden Menschenrechte.

Olga Neuwirth hat die Neubearbeitung der Lulu in das New Orleans der 1950-er und 70-er Jahre und nach New York verlegt. Sie sieht dort ähnliche Merkmale einer counterculture wie bei Alban Berg. Bühne und Kostüme, die Serebrennikov entworfen hat, und das von Diego Leetz besorgte Licht schaffen auf der Bühne eine Kühlhausatmosphäre, in der selbst die Minimalbekleidung der Lulu im Varieté keine Wärme aufkommen lässt. Weiße und mit viel Glasflächen ausgestattete Großvitrinen, in denen Frauen ausgestellt werden, und dunkel gekleidete Männer tragen zu einer unterkühlten Atmosphäre bei. Vor hellem Hintergrund auf Barhockern aufgereihte Schau-Männer wirken wie Schattenrisse, nicht wie lebendige Figuren. Wenn sich Lulu dann erobern lässt, bleiben auch die von den Männern erwarteten Annäherungen kühl angedeutet, bis Lulu sich, manchmal auch nach einem scharfen Pistolenknall, dem nächsten Oper zuwendet - neben Begierde und Berechnung ist für Gefühle kein Raum.

Die Neuinterpretation von Alban Bergs Lulu hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Wenige Zuschauer werden sich mit dem theoretischen Konzept von Neuwirth befasst haben. Ob sie es in dieser Inszenierung wiederfinden, ist eher fraglich. Die Inszenierung von Serebrennikov präsentiert eine nach wie vor verführerische Lulu und umgibt sie mit Männern, die zu Opfern werden müssen, wenn sie von Lulu in äußerster Kühle einer nach dem anderen tiefgekühlt werden. Die Konturen der Lulu haben viel Ähnlichkeit mit der, die Literaturgeschichte gemacht hat. Gleichwohl erleben die Zuschauer eine pfiffige, flotte, musikalisch anspruchsvolle und ansprechende Aufführung, die Lulu in ein modernes Musiktheater stellt. Über weite Strecken verdeutlicht die unkonventionelle und differenzierte Musik von Berg und à la Berg dieses von widerstrebenden Gefühlen berstende Musiktheater, in dem Songelemente ebenso ihren Platz haben wie rhythmusbetonte Jazzelemente oder gefühlvoll gesungene Arien in vertrauten Opernformen. Inszenierung und Bühnengestaltung führen zu einer Atmosphäre, die zwar die männersüchtige Lulu deutlich abkühlt, doch den von Neuwirth angekündigten Neuentwurf nicht realisiert. Von den weiblichen Figuren geht trotz der Unterkühlung eine große Faszination aus, die die Männer im doppelten Sinne „blass“ erscheinen lässt.

So fällt auch der Schlussapplaus gespalten aus. Nach Minuten kühlen, nachdenklichen Schweigens setzt tröpfelnd verhaltener Beifall ein, der schließlich beim Auftauchen der Darsteller anschwillt und lange anhält.  

Horst Dichanz

Fotos: Iko Freese