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Fakten zur Aufführung 

BERLINER LEBEN
(Jacques Offenbach/Barbara Rucha)
15. März 2012
(Premiere)

Oper Neukölln, Berlin


Points of Honor                      

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Berlin 2012: Arm, sexy, einfallsreich und frivol

Freizügig nach Offenbach" lautet der Untertitel zur Uraufführung eines Werkes, das entlang der Handlungsschiene des Originals Pariser Leben der beiden Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy nun die Geschichte neu und anders erzählt - berlinisch eben. Und man darf erstaunt sein, was für ein Berlin einem da präsentiert wird: Selbst wenn man viele Menschen hier kennt und oft hier war - in so ein Milieu hat es wohl die wenigsten je verschlagen.

Gleich zu Beginn wird der Bahnhof von Paris gegen den Flughafen von Berlin vertauscht - auch hier begegnen sich zwei ehemalige Freunde, die sich lange nicht gesehen haben, und wollen ein und dieselbe Frau abholen. Als diese dann mit einem anderen daherkommt, ist die Freundschaft von Omar und Fred in der Verbrüderung gegen den neuen Rivalen neu gekittet. Ein offenbar vor Reichtum strotzendes Pärchen, zum Geld ausgeben aus der Ukraine in die Hauptstadt gekommen, wird zum Opfer der Kumpane. 

Sie werden in den "Bau" von Omar gelockt, einer etwas heruntergekommenen Wohnung in einem nicht näher gekennzeichneten Stadtviertel, das deutliche Anklänge an Friedrichshain aufweist und hier "Kreuzkölln" genannt wird. Der selbsternannte Fremdenführer Omar gibt seine Bude frech als Erlebnishotel aus - und die Story kann beginnen. Es lässt sich erahnen, was den beiden Touristen so alles widerfahren wird: Er ist auf der Suche nach Sexabenteuern, sie gibt sich erbarmungslosen Shopping-Exzessen hin.

Das alles ist so keck und frech und lasziv und frivol und derb und brüllend komisch erzählt, dass man sich durchweg königlich amüsiert und doch immer wieder eingefangen wird vom musikalischen Zauber des Originals - auch hier ist die Gratwanderung gelungen, Offenbachs Werk über weite Strecken zu erhalten und doch immer wieder mit Instrumenten aller Art zu experimentieren und moderne, neu hinzu komponierte Passagen einzufügen. Auch die Choreographie Juliane Hollerbachs trägt ihren Teil dazu bei.

Librettist Kriss Rudolph versteht es mit seinem Erstlingswerk großartig, eine auf das heutige Berlin zugeschnittene Textvariante zu verfassen, die so keck - oft kalauernd zwar - aber einfach erfrischend Berlin-Stimmung von heute zu transportieren vermag. Es ist derb - ja. Es trieft ein wenig vor Klischees - ja. Die Frauen- und die Männerrollen kriegen ihr Fett ab - die Damen wie die Herren wollen nur "das Eine" - Spaß, Sex, Alkohol, Drogen, Konsum - und das versöhnt sozusagen mit der Niedrigkeit der menschlichen Triebgesteuertheit. Dem Regisseur und Zuchtmeister dieser 34 Rollen für 11 Darsteller, Hendrik Müller, gelingt ein neuer Operettenstil auf der Höhe der Zeit. Das war sein Anliegen: Eine Aktualisierung des verstaubten Originals, die genau das ausdrückt, was - und hier passt das abgenutzte Wort - dem Zeitgeist entspricht. Müller gelingt es, die Freude am Stoff, am Buch, an der Musik und zuallererst an seinen Darstellern in seine Inszenierung zu legen. Sonst, wenn er sich andere Operetten anschaue, die werkgetreu daherkommen, habe er stets das Gefühl, die Kollegen wollten zum Ausdruck bringen, wie bescheuert und überholt sie diese Musiktheatergattung finden, erzählt Müller nach der Premiere, sichtlich befreit und erleichtert, dass seine Rechnung so wunderbar aufgegangen ist. 

Hervorragend auch die musikalische Leitung und Begleitung am Klavier von Hans-Peter Kirchberg,  der die Arrangements und Neukompositionen von Barbara Rucha mit Hilfe seiner Mitmusiker leuchten lässt.

Die Bühne von Michael Köpke ist denkbar einfach: Plötzlich hat dieses Haus, das keine Drehbühne und keinen Schnürboden und keine Versenkung hat, all das doch. Er erreicht mit einer drehbaren Scheibe auf einem Podest alle Effekte und Varianten, die er für die unterschiedlichen Szenarien benötigt, sei es Flughafen, "Erlebnishotel", ein zwielichtiges Etablissement oder einen Nachtclub. Und auch die Kostüme von Sara Kittelmann könnten bunter und schriller kaum sein, doch stets sind sie passend und rücken die Handlung von ihrer - au fond - Spießigkeit in ein grell-buntes Neo-Berlin-Szenario.

Das Ensemble glänzt mit Spitzenleistungen. Ganz hervorragend in seinem Spiel ist Bariton Clemens Gnad als Alexej. Er lässt den zu schnell zu Geld gekommenen Oligarchen mit wenig Hirnsubstanz sehr plastisch werden und hat körpersprachlich und stimmlich seine Rolle voll im Griff - sogar wenn er auf Knien seinen Rausch ausschläft. Sopranistin Sarah Papadopoulou als seine Gefährtin Natascha versteht sich in erster Linie aufs Geld ausgeben, steht ihm gesanglich in nichts nach und auch, was die Verrohung der Sitten anlangt, kann sie mithalten. Hinreißend ist Pavel Jiracek als Rasmus beziehungsweise Manni. Seine schwule Friseurparodie ist eine wahre Glanznummer. Heimlicher Publikumsliebling ist Susanne Szel als Kay, Barbara oder Frau Zeisigmann. Sie beherrscht das Rollenfach von der lasziven Halbweltdame bis zur sexhungrigen Hausfrau aufs Trefflichste. Auch Janko Danailow in der Rolle des Omar, Peter Fischbach als Fred, "Rosetta" Maria Jamborsky, Almut Kühne in der Doppelrolle von Gesine und Annabell, Laurent Martin als Josh, Victor Petitjean und Oliver Uden begeistern die Zuschauerinnen und Zuschauer.

Die abwechslungsreiche Aufführung macht einen riesigen Spaß, und es ist der Oper Neukölln erneut gelungen - wie schon so oft - ihrem Publikum etwas völlig Neues und Anderes zu bieten. Das inhaltliche und musikalische Spektrum des Hauses ist wahrhaft groß und macht ob der Experimentierfreude immer wieder Staunen. Das Publikum dankt mit nachhaltigem Applaus für einen Spaßfaktor im oberen Bereich der Werteskala!

Christina Haberlik







Fotos: Matthias Heyde