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Fakten zur Aufführung 

BALL IM SAVOY
(Paul Abraham)
9. Juni 2013
(Premiere)

Komische Oper Berlin


Points of Honor                      

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Der freigesetzte Dibbuk

Unübersehbar an Haltestellen und Verkehrsknotenpunkten der Stadt stehen in diesem Jahr in Berlin ambulante Litfaßsäulen, die mit übergroßen Porträts an die mit der Machtübernahme der Nazis vor 80 Jahren verbundene Vernichtung und Vertreibung zahlreicher namhafter jüdischer oder anderer nicht ideologiekonformer Künstler und Geistesschaffender erinnern. Motto: „Zerstörte Vielfalt – Berlin 1933-1938-1945“.

Zu den Opfern gehörte auch Paul Abraham, der ungarisch-jüdische Operettenkomponist, der sich Ende der 1920-er Jahre in Berlin ansiedelte und bis Januar 1933 Chefdirigent des Metropoltheaters in der Behrenstrasse war. In jenem traditionsreichen Haus, das seit seiner Wiedereröffnung nach dem Zweiten Weltkrieg den Namen Komische Oper trägt, wurde seine letzte Erfolgsoperette Ball im Savoy einst einstudiert und dann im nahegelegenen Großen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt am 23.12.1932 unter Stabführung des Komponisten zur Uraufführung gebracht. Doch ihr Riesenerfolg war von kurzer Dauer. Im Januar 1933 übernahmen die Nazis die Macht, und ihr Bannstrahl traf auch Paul Abraham und sein opulentes Werk, ein letztes Zeugnis des von ihnen diffamierten freizügigen „Weimarer Ungeistes“. Abraham ergriff, ebenso wie die Librettisten und die Hauptdarsteller, die Flucht. Sein Weg führte über Österreich, Ungarn, Frankreich und Kuba in die USA. Doch als Komponist blieb ihm dort der Erfolg versagt. Gesundheitlich zerrüttet, endete er schließlich im Wahnsinn.

Im Gegensatz zu Abrahams früheren Operettenerfolgen Viktoria und ihr Husar und Blume von Hawaii, die gelegentlich nach 1945 wieder – wenn auch in veränderter, eingleisig sentimentalisierender Weise – in den Spielplänen deutschsprachiger Bühnen auftauchen, hat Ball im Savoy bestenfalls durch einige zu Schlagern gewordene Nummern überlebt. In Berlin jedenfalls ist das Werk seit seiner Uraufführung nicht wieder inszeniert worden. Nun also ein Revival zum 80. Geburtstag!

Dem Intendanten und Chefregisseur der Komischen Oper, Barry Kosky, war es nicht nur Selbstverpflichtung, sondern offensichtlich auch Herzensangelegenheit, Ball im Savoy szenisch wiederzuentdecken und dem Werk Genugtuung zu verschaffen. Gemeinsam mit dem jungen Dirigenten Adam Benzwi, einem Spezialisten für Musical und Chanson und Lehrbeauftragter für Musical an der Universität der Künste Berlin, machte er sich daran, die handschriftliche Originalpartitur vom nachträglichen Zuckerguss der 1950-er Jahre zu befreien und die Neuerarbeitung weitgehend dem Originalcharakter und -sound des Werkes anzupassen. Das bedeutete auch, den Dialog aus dem Original zu übernehmen und szenisch die erotische Freizügigkeit, das stillschweigend selbstverständliche Einvernehmen mit der Ambiguinität in Sitte, Moral und Sexualität, die sich hier fand, wieder deutlich zu akzentuieren.

Die Stärke der Vorlage ist nicht eine stringent und linear erzählte Geschichte. Sie liegt in den Situationen, die an einem lose gehandhabten roten Faden entlang Anlässe zu kontrastreichen musikalischen Einfällen und verblüffend ausladenden Bildern mit absurden und wahnwitzigen Momenten liefern. Das Klangbild ist gespeist von einem speziellen „berlinischen“ Jazz-Sound jener Jahre, der sich ebenso aus ungarisch-österreichischen Versatzstücken der Operette, jüdischer Klezmer-Musik und den Einflüssen speist, die aus Amerika soeben nach Europa hinüber geschwappt waren.

Die Librettisten Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda variierten das Handlungsmuster der Straußschen Fledermaus von der hintergangenen Ehefrau, die sich an dem zu jedem Seitensprung bereiten Gatten rächt, indem sie inkognito eben jenen Ball besucht, auf dem er sich nochmals mit einer früheren Flamme auszutoben gedenkt, und die nun für sich dasselbe Recht einfordert.

Zur Ouvertüre sind in einer Videoprojektion von Klaus Grünberg und Anne Kuhn scherenschnittartig ineinander übergehende flüchtige Stationen der einjährigen Hochzeitsreise des Ehepaares Aristide und Madeleine de Faublas, dargestellt durch Christoph Späth und Dagmar Manzel, rund um die Welt zu sehen. Die mit spitzen Fingern improvisatorisch aus Silhouetten zusammengesetzten Reisestationen zu Land, zu Wasser und in der Luft geben in ihrer flinken Leichtigkeit schon programmatisch den Erzählduktus des Abends vor: In gut drei Stunden werden Besucherinnen und Besucher mit einer wunderbarerweise nie ermüdenden Abfolge von getanzten und durch überbordende Ausstattung geprägten und immer wieder verblüffenden Bildern konfrontiert, die nicht nur den Akteuren auf der Bühne entzückte Ahs und Ohs entlocken.

Neben dem Orchester des Hauses, von dem man glauben möchte, es habe nie eine andere Musik gespielt, dem spielbesessenen und bewegungsintensiven Chor sowie vier speziell hinzu engagierten fabelhaften Tanzpaaren, die hochkomödiantisch, akrobatisch, stilsicher und mit frappierend schnellen Kostüm- und Geschlechterwechseln in der brillanten Choreografie von Otto Pichler faszinieren, sind es vor allem die Gaststars Dagmar Manzel, Katharina Mehrling und Helmut Baumann, die das Publikum immer wieder zu Zwischenapplaus hinreißen.

Und was für eine Ausstattung! Die Bühne von Klaus Grünberg zeigt variierende Treppen, tablettartig „servierte“ Podeste, einen Fahrstuhl, durch dessen Tür in kürzester Zeit und ohne Stau Chormassen auftreten oder wieder verschwinden – verblüffend in ihrer beweglichen Organisation. Die Kostüme von Esther Bialas und Anna Gonnella basieren auf detaillierten historischen Recherchen, die ein fabelhaftes Stilbewusstsein zeigen. Da sieht man verschiedene, endlos lang erscheinende Kleiderschleppen, die genau kalkuliert bewegt und auch rasch und wirkungssicher umdrapiert werden müssen. Der Kopfputz ist so manches Mal historischen Mustern nachgefertigt – die Vorbilder einer Asta Nielsen oder Olga Tschechowa aus Stummfilmzeiten lassen grüssen. Wo kann man denn sonst derzeit einen so neugierigen und gleichermaßen wissenden Blick auf historische Opulenzen ausmachen, die als schöpferische Anregung nutzbar werden?

Die Geschicklichkeit der Dramaturgie und Regie ist zu rühmen, die inmitten der raschen Abfolge knallsicherer Shownummern immer wieder Kontraste pflanzt, stille Momente wohldosierten Sentiments, die durch Reduktion und demonstrative Begrenzung verzaubern – so etwa das chansonartig und nur mit Klavierbegleitung von Dagmar Manzel interpretierte Toujours l´amour, oder aber jene intime Duettszene von Christiane Oertel und Peter Renz, in der die sonst nur als Domestiken in Erscheinung tretenden Nebenpersonen Bébé und Aristides für wenige Minuten aus ihrem Schatten heraustreten und sich mit leicht jiddischem Akzent an ihre Jugend in Wien erinnern, an ihr erstes Beisammensein. Da steht für kurze Zeit der ganze Rummel ringsum still, und wir schauen in zwei Herzen.

Den Vogel schießt in dieser Inszenierung die musical- und chansonversierte, bezaubernde und pointensichere Katharina Mehrling als ihr Geschlechtsimage wechselnde Daisy Darlington alias José Pasodoble ab. Bei fabelhafter stimmlicher Variabilität wechselt sie mit Noblesse zwischen Frack und ausladender Abendrobe samt wallender Kleiderschleppe auf obligatorischer Revuetreppe.

Von verblüffender Wirkung ist auch die übergroße, figürlich voluminöse Altistin Agnes Zwierko als mit polnischem Akzent und schmetterndem Damenbass in die Szene herausgetragene „argentinische Tänzerin“ Tangolita. Das ist wohl ein Gruß an Zarah Leander in der Schlussszene ihres Films Premiere. Von Tanz natürlich keine Spur! Dass da der Memory-Seitensprung jener Tangolita mit ihrem Verflossenen Aristide tatsächlich in der erforderlichen Motorik stattfinden könnte, bleibt bei den Gegebenheiten pure Spekulation…

Wie pointiert die Figuren erarbeitet wurden, zeigt sich auch bei Dennis Dobrowolski in der Rolle des jungen Rechtsanwalts Célistin Formant. Der ist zwar überaus sexbesessen, aber dabei tragischerweise ohne seine Brille gänzlich hilflos. Wie dieser blonde Charmeur mit seinem Kindergemüt in gummiweicher, akrobatischer Stehauf-Dauerbewegung wie ein Jojo agiert und aus allen unfallartigen Fallmanövern mit fröhlichem Lächeln unbeschadet immer wieder aufersteht, gehört zu den Glanzleistungen des Abends.

Regisseur Barry Kosky entgeht geschickt der naheliegenden Gefahr einer vordergründig daherkommenden, zeitkritisch gemeinten politischen Agitation. Dennoch ist eine „zweite Spur“ historischer Verweise vorhanden. So in den jiddischen Sprachanklängen des aus der Zeit gefallenen Mustafa Bey von Helmut Baumann oder in dem schon erwähnten Duett Bébé/Aristide. Vor allem aber in einem dem Stückfinale angefügten Epilog, in dem Kosky als Moderator auf das Schicksal von Werk und Komponist verweist und die Figur des „Dibbuk“ aus der jüdischen Mythologie bemüht, also jenes untoten und revoltierenden Geistes eines vorzeitig Gestorbenen, der vehement auf Erlösung durch endliche Freisetzung drängt. So ging es ihm wohl, als er sich mit dieser Wiedererweckung zum Sachwalter dieses Werkes und seines Autors machte.

Schlussendlich kommt es zu einem wunderbaren Tableau, in das das gesamte Savoy-Ensemble eingebunden ist. In einer bewegenden Solisten- und Chorszene erklingt ein Lied aus Paul Abrahams Operette Viktoria und ihr Husar, das hier in einem veränderten, zeitbezogenen Kontext steht: Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände…

Die außerordentliche Leistung aller Beteiligten wird vom Premierenpublikum mit Dankbarkeit udn Begeisterung honoriert - Ovationen ohne Einschränkung.

Was bleibt am Ende zu sagen? Kosky hat in seinem ersten Jahr als neuer Chef der Komischen Oper einen glänzenden Beleg für seine Konzeption geliefert, das Haus auch zu einer neuen Heimstatt der jazzig inspirierten Operette des 20. Jahrhunderts zu machen, einer beinahe versunkenen und nun mit Zielstrebigkeit und Elan neubelebten Kultur. Drücken wir ihm – und also auch uns – dafür die Daumen!

Joachim Stargard







Fotos: Iko Freese