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Fakten zur Aufführung 

PFINGSTEN IN BAUTZEN
12. Juni 2011 (Premiere)

Sorbisches National-Ensemble


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Eine Waffe gegen die Assimilation

Wer heute die Begriffe Volkstanz oder Brauchtum hört, der denkt womöglich mit Schauder an die Sterilität und aufgesetzte Heiterkeit, mit der Rundfunk und Fernsehen ihre erbarmungslosen Verkitschungen der Volkskultur dem Publikum auftischen. Viele Rezipienten haben deshalb die Folklore schon längst als minderwertige Illusionskunst und Lüge abgeschrieben. Das ist verständlich, bleibt aber ein Fehlurteil. Man muss nur die sorbische Lausitz bereisen, um zu erfahren, dass „der ewige Erb- und Lustgesang des Volkes“ (Herder) doch noch nicht ganz verklungen ist. Der Nährboden dafür ist die autochthone Weiterentwicklung einer in der Alltagswelt verankerten sorbischen Sprache. Zudem sind die Sorben ein Volk mit einer eminenten Veranlagung für alle Formen von hoheitsvollen theaterähnlichen Schaustellungen. Was jedoch für Touristen vielleicht nur, wie im Falle des Osterreitens, ein interessantes Kulturphänomen darstellt, hat für die Sorben Aussage, Sinn und Bedeutung als Ausdruck einer umfassenden Lebensphilosophie.

Dies alles hat direkte Folgen für die Aufgaben und die Ästhetik eines professionellen sorbischen Theaters. Das 1952 gegründete Sorbische National-Ensemble (SNE) mit Sitz in Bautzen war denn auch keine Erfindung von Funktionären, sondern eine Gabe aus dem Volk, was gerade in Hinblick auf die künftige Entwicklung des Hauses gar nicht genug betont werden kann. Während Gründungsdirektor Jurij Winar die Tänzer und Sänger des Ensembles also vorwiegend aus der sorbischen Jugend gewann, pflegte sein Nachfolger Handrij Cyž im Sinne slawischer Wechselseitigkeit enge Kontakte zum slowakischen Volkskunstensemble SL’UK und holte den slowakischen Choreographen Juraj Kubánka nach Bautzen. Mit Kubánka hielt die artistische Brillanz osteuropäischer staatlicher Volkstanzcorps im SNE Einzug und ging dabei eine überaus glückliche Synthese mit der überkommenen sorbischen Motivik ein. Aus dem kostbaren Schatz dieser kleinen, durch Folklore inspirierten Gesamtkunstwerke aus Choreographie, Tracht, Gesang und Musik hat das SNE nun einen neuen Zyklus arrangiert.

Kubánkas Arbeiten sind eine tänzerische Apotheose von Szenen aus dem Dorfleben, wobei stets der jeweils charakteristische Zusammenhang mit Brauchtum und Überlieferung der verschiedenen Regionen der Lausitz bewahrt bleibt. So bestimmen dramatisch ausdrucksstarke Momente aus dem Lebenskreis von Geburt, Liebe und Tod die Gesangs- und Tanzszene „Glocken“. Virile Kraft und Vitalität prägen die heidnischen „Hirtenspiele“, wenn die Tänzer einen zirzensischen Schlagtanz mit Stöcken austragen, die sie auf den Boden oder auch gegeneinander prallen lassen. Eine „Niedersorbische Hochzeit“, durchpulst von unbändiger Tanzlust, zieht als ein choreographisches Vergnügen der Extraklasse vorbei: Die Tracht als Ausdruck des Schönen und der Selbstdarstellung, die Aura der Körperhaltung und -führung sowie das Lächeln auf dem Gesicht der Tänzerinnen versprühen einen unwiderstehlichen Liebreiz. Schalkhafte Divertissements zu humorvollen Scherzliedern wechseln mit Gesangseinlagen im Kocorschen Volkston, bei denen besonders die prachtvollen Trachten der Frauen ihr zauberisches Eigenleben entfalten. Überhaupt avanciert die Tracht mit ihren vielfältigen, je nach natürlicher Umgebung und sozialer Lebenswelt variierenden Farbakkorden zu einem integralen Bestandteil der künstlerischen Ausdruckseinheit, wobei natürlich auch sorbisches Blaurotweiß nicht fehlt. Ihre unverwechselbare Eigenart danken die Tanzbilder überdies den vortrefflichen Bühnenkompositionen der sorbischen Meister, die wie Alfons Janca mit seiner „Spreewaldfahrt“ Sensibilität für das Alte mit schöpferischen Gespür für neuere musikalische Ausdrucksformen vereinen. Bewundernswert sind die Hingabe und ungebrochene Professionalität, mit der das gesamte Ensemble nach einer für alle Beteiligten - von den Künstlern bis zur Intendantin - leidvollen Saison der personellen Neuordnung die Vorstellung zu einem einhelligen Publikumserfolg führt.

In ihrer lebensbejahenden Sinnlichkeit und unvergänglichen Jugendfrische sind Kubánkas Choreographien ein willkommener Kontrast zu allen Modebestrebungen, den Bühnentanz der Schauspiel- und Performancekunst anzunähern und damit Macht und Magie der tänzerischen Eigenaussage aufzukünden. Aber natürlich verbringen die Sorben nicht ihr ganzes Leben mit dem Zelebrieren ihrer Bräuche. Für die Fortexistenz der Nation ist die lebendige Pflege der sorbischen Sprachen die entscheidende Voraussetzung. Hier ist das SNE auch aus dem Verständnis seiner Geschichte heraus eine Waffe gegen die Assimilation. Deshalb legt die seit Mai 2010 amtierende Intendantin Milena Vettraino größten Wert auf die konsequente Anwendung der sorbischen Sprache an ihrem Haus, gleichviel ob vor, auf oder hinter der Bühne. Darin werden auch die des Sorbischen nicht mächtigen Zuschauer einbezogen, wenn zum Beispiel Moderatorin Kristina Nerad vor einem überwiegend deutschen Publikum sorbische Anteile in ihre Geleitworte einfließen lässt oder schon die Einlasskräfte zu kleinen sorbischsprachigen Dialogen einladen. Man muss dabei nicht jedes Wort verstehen, um die Botschaft, auf die es hier ankommt, zu begreifen: Dieser Theaterabend ist kein nostalgischer Museumsbesuch, sondern steht für die Selbstbehauptungskraft des sorbischen Lebenskreises ein. Die Basis aller Kultur ist die Sprache. Sollte sie untergehen, dann könnten eines Tages die in diesem Moment sinnlos gewordenen, traurigen Reste sorbischen Brauchtums in den Verwertungsanstalten der Kulturindustrie landen und die Verächter der Volkskunst dürften sich bestätigt fühlen. - Es niemals so weit kommen zu lassen, dazu ist man am SNE unter der Leitung von Milena Vettraino fest entschlossen.

Christian Tepe