Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

Fakten zur Aufführung 

MANON LESCAUT
(Giacomo Puccini)
21. April 2014
(Premiere am 12. April 2014)

Festspielhaus Baden-Baden


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Chat-Faktor


Rezensionen-Archiv

Aufführungen nach Name
Aufführungen nach Ort


 
 

zurück       Leserbrief

Die Sinfonie der Oper

Seit seinen frühen Opern Le Villi und Edgar hat Puccini mit dem Verdacht zu ringen, er sei im Grunde „nur“, wie sogar manche latent anklingen lassen, ein Sinfoniker und kein Opernkomponist. Übervater Verdi wird unter dem Eindruck von Le Villi die Aussage zugeschrieben, der Mann aus Lucca scheine „in erster Linie ein Sinfoniker“ zu sein. George Bernard Shaw, auch Musikkritiker und wie Puccini ein Verehrer Richard Wagners, äußert nach der ersten englischen Aufführung von Manon Lescaut, die Komposition sei „unüberhörbar sinfonisch in der Anlage“. Die Experimente in den Parametern Harmonik und rhythmische Synkopierung bewiesen „ein starkes kompositionstechnisches Interesse, das in der italienischen Musik ein überaus erfrischendes Symptom für geistige Vitalität ist“. In einer Vielzahl von Rezensionen von Aufführungen oder Einspielungen des Werks wird seitdem das Spezifikum des sinfonischen Grundrisses strapaziert.

Ist Manon Lescaut im Prinzip eine Sinfonie, klassisch aufgebaut in vier Sätzen nach strengem Formprinzip und lediglich erweitert um die Opernanteile, so ist eine Orchesterbesetzung mit den Berliner Philharmonikern superb und eigentlich kaum noch zu steigern. Wer hingegen mit dem Puccini-Biographen Edward Greenfield der Ansicht ist, der Komponist habe mit seinem dritten Werk für das Musiktheater zu einer streng konzipierten Opernsprache und so zu einer eigenen, eigenständigen Ausdrucksform unabhängig von Wagner und Verdi gefunden, der wird mit der höchste Standards versprechenden Orchesterbesetzung sein Problem haben, wenn auch ein luxuriöses. Eben das lässt sich am Opernkernstück der zweiten Osterfestspiele in Baden-Baden mit dem deutschen Spitzenorchester und ihrem musikalischen Leiter Simon Rattle festmachen.

Puccinis von allein sieben Librettisten, darunter seinem Manon-Rivalen Ruggiero Leoncavallo, zusammenmontierte Oper in vier Akten nach dem Roman Histoire du Chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut des Abbé Prévost ist alles andere als ein Sammelsurium von Steilvorlagen für Arienakrobaten und sonstigen Gefühlskaskaden. Sein1893 in Turin uraufgeführtes Dramma lirico ist vielmehr ein äußerst kühner, weil damals beispielloser Wurf, der den Gesetzen eigentlich der Filmsprache, der Filmtechnik und des Filmschnitts folgt. Puccini schreibt den Erstling einer bald schon konsequenten Serie, die ihn letztlich mit La fanciulla del West an die Metropolitan Opera in New York bringen sollte, wo diese 1910 ihre Uraufführung und ihr Schöpfer sein glanzvolles Debüt erleben sollten. Die Story, das Schicksal einer Frau, die zu lieben, aber nicht zu leben versteht, und ihres glühenden Liebhabers, der sich in der Gesellschaft im Frankreich des späten Rokoko nicht zu behaupten vermag, ist ja geradezu klassisch der Stoff, aus dem Hollywood seine Träume schöpft. Die musikalische Umsetzung einer Film-Oper auf der Bühne und im Orchestergraben erfordert mithin Außergewöhnliches, soll eine Qualität erreicht werden, die „festspielwürdig“ genannt zu werden verdient. Außergewöhnliches an Probenaufwand. Außergewöhnliches an jeglicher Anstrengung mit dem Ziel der Verschmelzung von Musik und Darstellung in allen Dimensionen eines Opernfilms auf einer Theaterbühne.

Natürlich ist es nicht möglich, unter den Bedingungen des heutigen Opern- und Festspielbetriebs eine Probenintensität zu erreichen, wie sie zum Beispiel beim legendären Pariser Tannhäuser 1861 belegt ist. „Wagner probte bis zum Exzess, ein ganzes Jahr lang“, heißt es in einer Quelle von damals. Aber die höchsterreichbare Stufe der musikalischen Umsetzung der Opernpartitur dürfte das Baden-Badener Publikum gleichwohl erwarten, zumal bei den Osterfestspielen mit dem deutschen Renommierorchester schlechthin, zumal bei den Ambitionen, die Intendant Andreas Mölich-Zebhauser mit ihnen verbindet. Nicht dass die Berliner Philharmoniker auch bei dieser Aufführung kein Ereignis wären. Die tiefen Streicher, Celli und Kontrabässe vor allem, sind in den ersten beiden Akten ein Erlebnis an sich. Die Harfe füllt das große Festspielhaus mit einer beängstigenden Eindringlichkeit, die einem Zuhörer die Kehle zuzuschnüren vermag. Flöte und Oboe sind schlicht großartig, wenn Des Grieux im ersten Akt seine Liebesbeteuerung Donna non vidi mai verströmt, wenn Manon mit Sola, perduta, abbandonata ihre Weltverlorenheit beschwört. Simon Rattle ist ein stets engagierter aufmerksamer Dirigent und mit sich und seinem Orchester in den sinfonischen Partien völlig eins, so im großen Vorspiel zum dritten Akt mit Tristan-Atmosphäre.

Puccini hat mit Manon Lescaut erstmals eine Oper geschrieben, in der – anders als im Barock und Belcanto und namentlich bei Verdi – nicht der Sänger als alleiniger Träger der Melodie agiert und ihm das Orchester assistiert. Vielmehr bringen beide musikalischen Instanzen im Verschmelzen das Gesamtergebnis hervor. In Lescaut ?!... Tu qui?! perfekt, dann in den zentralen Duetten in La Bohème und Tosca vollendet sich das wechselseitige Durchdringen wie in einem Reißverschlussverfahren. Eva-Maria Westbroek mit ihrem höhensicheren, sowohl lyrisch wie hochdramatisch famosen Sopran in der Titelrolle und ganz besonders der glänzend disponierte Massimo Giordano als Renato Des Grieux haben selbstverständlich das Zeug, den höchsten Anforderungen der Partitur zu entsprechen. Der italienische Tenor hinterlässt bei seinem Rollen- und Hausdebüt an der Oos einen bravourösen Gesamteindruck, vokalselig strömend vor Glück im ersten, sich todesnah verzehrend mit Tutta su mi ti posa im vierten Akt. Nur – die Hauptprotagonisten wie auch die beiden deutlich schwächeren Baritone, Lester Lynch als Lescaut, Liang Li mit dem Part des Steuerpächters Geronte de Ravoir, und die Berliner kommen nicht zu der Verschmelzung, die zu reiner Puccini-Kunst vonnöten ist. Vielfach übertönen die Opernsinfoniker wie ein Rennmotor in der Formel eins den Gesang. Dann wieder scheinen sie in einer Art Verselbständigungsschleife darauf fokussiert, sich als Prädikatsklangkörper beweisen zu wollen, was ja ohnehin außer Frage steht.

Die weiteren Rollen sind mit Bogdan Mihai als Edmondo, Reinhard Dorn, der den Wirt und den Seekapitän gibt, und Johannes Kammler als Sergeant der Bogenschützen überzeugend besetzt. Im speziellen Blickpunkt schließlich Magdalena Kožená, hier als ein Musikant mit von der Partie. Rattles Carmen kürzlich in der Einspielung der Bizet-Oper mit Jonas Kaufmann ist nämlich hochschwanger. Eindrucksvoll und in der Performance eine Wucht ist im Übrigen der Philharmonia Chor Wien, der von Walter Zeh einstudiert wurde.

Früh hat sich das monumentale, von Robert Howell geschaffene Bühnenbild herumgesprochen – ein spektakulärer Beweis für das Baden-Badener Konzept, Attraktionen mit Opulenz zu organisieren, Festspiele als Feste zu spielen. In die gewaltige Architektur von Pariser Häusern mit effektvollen Treppenverläufen sind die vier ja höchst unterschiedlichen Schauplätze des Stücks hineinplatziert, dabei im dritten in Le Havre am Kai spielenden Akt gar die Vorderfront eines veritablen Schiffes. Der renommierte Theaterregisseur Richard Eyre, seit seinem Regiedebüt mit La Traviata in Covent Garden 1994 auch regelmäßig im Opernmetier präsent, lässt in dieser Cinemascope-Kulisse die erotischen Eskapaden und existentiellen Fluchten der Manon Lescaut in einer Transformation in das Paris von 1940 spielen. Dafür liefert die Opern- und Filmdesignerin Fotini Dimou passende Kostüme.

Soldaten in NS-Uniformen lagern oberhalb der Treppe oder jagen diese eilends hinunter, um etwa Manon und ihren Geliebten zu ergreifen. Geronte hat sie bei den braunen Besatzern wegen Diebstahls angeklagt. Die ahistorische Leidenschaft der Jugend bei Prévost kontrastiert einer realen Welt, deren Legitimation Eyre laut Programmheft künstlerisch mit seiner hohen Affinität zum Film noir begründet. Da sind wir also mittendrin im Opernkino, nur leider im falschen. Puccini schreibt ja mit seinem veristischen Stück, wie kein zweiter vor ihm, „Regietheater“ pur. Warum da noch eine Metaebene einziehen? Ist das Elend der Manon – Sola, perduta, abbandonata – ihr Krepieren in der Einöde irgendwo vor New Orleans für das Publikum auch nur einen Deut packender, beklemmender, erschreckender, wenn es mit den Gräueln der Nazi-Besatzung in einen Kontext gebracht wird? Schlicht unerfindlich – pars pro toto – bleibt, warum mitten im Krieg ausgerechnet französische Huren ins freie Amerika transportiert werden sollen. Im Krieg, wenn bekanntlich zivile Schiffe zu Hauf für militärische Aktionen in Beschlag genommen werden.

Das Publikum im Festspielhaus nimmt, unter dem Strich, diese und andere Ungereimtheiten nicht wirklich übel. Es berauscht sich im großen Jubel am Ende an allen Akteuren auf der Bühne und „seinen“ Berlinern. Nicht wenige Besucher wohl dürften inzwischen die Rattle-Musiker zumindest gedanklich vereinnahmt haben, sei dies auch nur ein- oder zweimal im Jahr. Ostern kommenden Jahres wird mit dem Rosenkavalier von Richard Strauss eine außergewöhnliche Gelegenheit an der Oos zu verfolgen sein, einen weiteren Schritt im Prozess der Aneignung der Kunst der Oper durch die Berliner Philharmoniker zu beobachten. Gerade er bekanntlich ein Wunderwerk, das ganz viel Opernkompetenz und Opernhingabe verlangt, und den, dem das Ganze gelingt, mit allerlei walzerseligen Symphonischem belohnt.

Ralf Siepmann







Fotos: Jochen Klenk