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Fakten zur Aufführung 

WERTHER
(Jules Massenet)
9. Februar 2014
(Premiere)

Bühnen der Stadt Gera/ Landestheater Altenburg


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Dunkle Seelenträume

Der Komponist Jules Massenet steht noch ganz unter dem Eindruck einer Parsifal-Aufführung bei den Bayreuther Festspielen im Sommer 1885, als er mit dem Verleger Georges Hartmann auf einer Deutschlandrundreise in Wetzlar das Haus besichtigt, in dem Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers 1774 entstanden ist. Dieses Werk mit autobiographischen Zügen machte den jungen Schriftsteller über Nacht berühmt und löste ungeahnte Emotionen aus. Bis heute gehört das Werk zu den erfolgreichsten Romanen der Literaturgeschichte. Massenet ist gefangen von diesem Stoff, und noch am selben Tag vertieft er sich in eine französische Übersetzung des Romans und beschließt nach Lektüre der Liebesszene, dieses Drama als Oper zu vertonen. Massenet adaptiert Goethes Briefroman und schreibt eine Oper voller Leidenschaft und Dramatik, deren erfolgreiche Uraufführung am 16. Februar 1892 am Wiener k.u.k.-Hofoperntheater über die Bühne geht und sich bis heute im Repertoire vieler Opernhäuser gehalten hat.

Die Geschichte selbst ist ein melancholisches Seelendrama. Der verwitwete Amtmann Bailli probt mit seinen vielen kleinen Kindern Weihnachtslieder, ein häusliches Idyll. Werther, der nach Wetzlar zu Besuch kommt, gerät über die wunderbare Natur ins Schwärmen.

Als er sieht, wie die Kinder ihrer großen Schwester Charlotte, der einzigen erwachsenen Tochter des Amtmannes, liebevoll entgegen stürmen, ist er zutiefst beeindruckt. Er gesteht Charlotte, seiner Cousine, seine Liebe, doch sie weicht ihm aus und weist ihn auf einen Schwur hin, den sie ihrer sterbenden Mutter geleistet hatte, nämlich ihren Verlobten Albert zu heiraten. Da trifft die Nachricht ein, dass Albert zurückgekehrt ist. Werther bleibt verzweifelt zurück. Nach der Hochzeit von Albert und Charlotte beteuert Werther ihr gegenüber erneut seine Liebe. Charlotte weist ihn abermals zurück und erlaubt ihm erst zu Weihnachten das nächste Wiedersehen. Werther flieht und lässt Sophie, die 15-jährige Schwester Charlottes, weinend zurück, sie wiederum hat sich unglücklich in Werther verliebt. Charlotte erkennt in Werthers Briefen eine angedeutete Selbstmorddrohung, die sie tief beunruhigt. Da kommt Werther ganz unerwartet zu ihr, fordert einen Kuss, den ihm Charlotte aber verweigert. Werther verlässt Charlotte endgültig und schickt Albert einen Brief, in dem er ihn um seine Pistole bittet, die dieser ihm auch schicken lässt. Charlotte erkennt die Selbstmordabsichten Werthers und sucht ihn verzweifelt. Zu spät, Charlotte findet den sterbenden Werther. Jetzt, im Angesicht seines Todes, bekennt sie ihm ihre Liebe.

Regisseur Roland Schwab überschreibt seine Inszenierung als „Moritat vom Schatten“, eine heute eher verloren gegangene Darstellungsform. Scherenschnittartige Darstellung mit Stummfilm-Ästhetik in schwarzweiß, eine Reise in eine nostalgische Vergangenheit mit Silhouetten-Bildern. Sein Werther ist ein „Ästhet des Schmerzes“, der nur im Tode Erlösung finden kann. Und er inszeniert seinen qualvollen Untergang mit narzisstischer Selbstzerstörung. Gleichzeitig leidet dieser Werther an einer Persönlichkeitsspaltung, wird stets von seinem Alter Ego begleitet, der ihn führt, verführt und zerstört. Der eine Teil seiner Persönlichkeit hofft, in der heilen Welt häuslichen Idylls, die er im Hause Charlottes und ihrer Geschwister erkennt, seinen Seelenfrieden zu finden, während sein Alter Ego in selbstzerstörerischer Art und Weise diesem Idyll flieht. Schwab hat diese Charakterstudie in extenso angelegt und konsequent durchgezogen. Ein Leierkastenmann und ein Gaukler, die mit verzerrter Mimik und Gestik wie in einem Stummfilm sarkastisch in Gedichtzitaten Werthers Schicksal kommentieren, werden von Schwab als kontrapunktische Gestalten eingeführt, die genussvoll das Leiden Werthers bis zum bitteren Ende forcieren und sezieren. Was fasziniert, sind die Kontraste und die emotionale Wirkung des eingeblendeten Schwarzweiß-Stummfilms im Zwischenspiel zwischen drittem und viertem Akt: Werthers Flucht in den Selbstmord und Charlottes verzweifelter Versuch, ihn davon abzuhalten. Am Schluss liegt Werthers blutverschmiertes Alter Ego sterbend in Charlottes Armen, während Werther im Tod sich selbst stilisiert.

Piero Vinciguerra hat für dieses Drama das passende Bühnenbild, Kostüme und Videoprojektionen angelegt. Ein heruntergekommenes Karussell ist Mittelpunkt des Geschehens. Es dreht sich mal schnell, dann bleibt die Zeit wieder stehen. Es ist Haus der Familie zur Weihnachtszeit, wenn alles weiß gewandet ist, es ist aber auch Baustelle und wird zum Spiegelbild dunkler Seelenträume der Protagonisten, wenn Charlotte letztendlich an der Unmöglichkeit eines gemeinsamen Glückes zerbricht. Und so wird alles in schwarzweiß gehalten, und Charlottes unschuldig weißes Kleid wechselt nach ihrer Hochzeit in schwarze Trauerkleidung als Ausdruck ihrer Seelenqual.

Bernardo Kim gibt den Werther mit kraftvollem Tenor und einer breiten, lyrischen Mittellage, doch klingen die Höhen in den dramatischen Ausbrüchen etwas angestrengt. Die große Arie Pourquoi me réveiller im dritten Aufzug gestaltet er mit großem Pathos. Seine Seelenqualen, die er in dieser Rolle durchleben muss, lassen sich manchmal nur erahnen, zu ausdruckslos ist sein Spiel. Ganz das Gegenteil ist Chrysanthi Spitadi als Charlotte. Ihr Spiel ist voller Leidenschaft und Emotion, und ihr warmer Mezzo trägt vor allem in der Mittellage, während sie an den dramatischen Stellen am Schluss etwas an ihre Grenzen kommt. Katie Bolding begeistert mit hellem, glockenreinem Sopran und leichtfüßigem Spiel als Sophie. Johannes Beck überzeugt als Albert mit markantem und ausdrucksstarkem Bariton, und Kai Wefer gibt den Amtmann Bailli mit profundem Bass-Bariton. Erik Slik beeindruckt als Leierkastenmann Schmidt mit tenoralem Wohlklang und eindrucksvollem Spiel, wohingegen Heiko Retzlaff zwar ausdrucksstark als Gaukler Johann zum Zuge kommt, stimmlich allerdings deutlich hinter den anderen Protagonisten abfällt. Marco Schmidt spielt Werthers Alter Ego mit intensivem Ausdruck.

Damenchor und Kinderchor sind von Ueli Häsler und Susanne Hoch gut eingestimmt, insbesondere die zarten Kinderstimmen verleihen der Szene einen feierlichen Moment. Laurent Wagner führt das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera sicher und präzise durch das melancholische Wellental der Partitur, manchmal fehlt jedoch der Fluss und der Zug im Dirigat, was eine noch intensivere emotionale Berührung verhindert.

Das Publikum im nur mäßig gefülltem Altenburger Theater ist zunächst sehr reserviert, der Applaus zunächst zurückhaltend. Zwar gibt es dann etwas Jubel für die Protagonisten, aber Regisseur und Bühnenbildner müssen dann schon kräftige Buhs einstecken, auch wenn es daraufhin Gegen-Bravos gibt. Die dunklen Seelenträume Werthers, die Roland Schwab eindrucksvoll charakterisiert hat, scheinen bei manchem Zuschauer eher Alpträume verursacht zu haben. Doch dieses Werk fordert eine intensive Auseinandersetzung mit den Tiefen und der Dunkelheit der menschlichen Seele sowie der Gefühle, und Schwab hat diese Auseinandersetzung gekonnt angenommen.

Andreas H. Hölscher

Fotos: Stephan Walzl