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Fakten zur Aufführung 

L'ENFANT ET LES SORTILÈGES
(Marice Ravel/Darius Milhaud)
3. Juli 2012
(Premiere am 16. Juni 2012)

Theater Aachen


Points of Honor                      

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Der Künstler als Kind

Eigentlich geht es in dieser Oper um ein unartiges Kind, das trotzig und wütend sein Zimmer verwüstet und seine Tiere quält. Daraufhin wird alles im Zimmer lebendig. Das verängstigte Kind wird von Mobiliar, Tieren und Spielzeug bedrängt. Erst durch die gute Tat des Kindes – einem verletzten Eichhörnchen die Pfote zu verbinden – endet der Spuk. Eine Entwicklung und ein Reifeprozess sind abgeschlossen, das Kind hat dazugelernt.

Regisseur Sebastian Jacobs hat aber eine ganz andere Idee. Das Libretto von Sidonie-Gabrielle Colette, deren Erzählung Mitsou und Teile aus ihrer Lebensgeschichte inspirieren Jacobs, die Oper aus dem Kinderzimmer in die Welt der Pariser Varietés zu verlegen. Um die Oper seiner Idee anzupassen, und nicht andersherum, schreibt Jacobs eine eigene kleine im Programmheft abgedruckte Geschichte über das Theater Jardin, geleitet von „Maman“. Dabei steht die Tänzerin Mathilde im Mittelpunkt, die es tatsächlich gegeben hat – als Affäre von Colette, deren Kuss mit ihr auf offener Bühne einen Skandal entfacht hat. Das Kind nennt Jacobs in seiner Geschichte ganz originell Claudette, ist also niemand anders als die Librettistin Colette. Bis hier hin schon mal ganz schön kompliziert. 

Die Idee, „L’Enfant“ zum Künstler einer verrückten Theaterwelt zu machen, ist an sich spannend, scheitert aber größtenteils an der Umsetzung. Es wird quasi vorausgesetzt, dass der Zuschauer das Programmheft kauft und vor der Vorstellung genau liest. Darüberhinaus werden mehrere Ebenen eröffnet, die mit dem Bühnengeschehen synchronisiert werden müssen – Libretto/Handlung, Person der Autorin, Geschichte des Regisseurs, szenische Gestaltung und natürlich die Musik. Bevor es nämlich mit der eigentlichen Oper losgeht, steht zunächst die Bühnenmusik Milhauds Le boef sur le toit auf dem Programm, die sich musikalisch an sich gut eignet, in die Szenerie einzuführen: Nachdem französische und deutsche Durchsagen der „Inspizienz“ gespannte Verwirrung stiften, erwartet das Publikum auf der Bühne der Backstage-Bereich des Varietés. Man kann den jeweiligen Tänzern und Darstellern dabei zusehen, wie sie sich auf ihren Auftritt vorbereiten: Es wird geschminkt, getuschelt, gedehnt, geflirtet, und Maman hat immer ein scharfes Auge auf ihre Untergebenen. Nacheinander werden dann den mit Zylindern behüteten Zuschauern vor oder auch hinter dem roten Samtvorhang verschiedenste Vorstellungen geliefert. Diese an sich pfiffige Einführung zieht sich leider im Verlauf der Bühnenmusik, da einige Sänger dazu verpflichtet werden mitzutanzen, was sich besonders unglücklich beim Can Can bemerkbar macht, und sich trotz weitgehend guter tänzerischer Darbietung keine wirkliche Varieté-Stimmung verbreitet.

Und dann geht es erst richtig los. Von nun an wird dem Publikum einiges abverlangt. Statt Übertitel gibt es Überschriften, wie man es vom Stummfilm kennt. Diese assoziativen Schlagworte wie „Der Traum“, „Abschied“, „Die Wunde“, „Erwachen“ sind für den durch Übertitel verwöhnten Zuschauer vielleicht auch eine positive Herausforderung und könnten dazu verleiten, sich ganz auf das Bühnengeschehen und die Musik zu konzentrieren, anstatt mit den Augen ständig am oberen Bühnenrand zu hängen. Problematisch ist es trotzdem. Was bleibt vom durch die Regie im Vornhinein als wichtig hervorgehobenem Libretto? Entweder erwartet man, dass alle Anwesenden fließend oder gar kein Französisch sprechen und alles verstehen oder sich nur an der Sprachmelodie erfreuen. Soll die eigentliche Handlung eliminiert und anstelle dessen die neue Geschichte Jacobs' gesetzt werden? Das mag Geschmackssache sein, aber dieses für den Zuschauer nicht nachvollziehbare Vorgehen erweckt nicht den Anschein einer das Werk respektierenden Arbeit. Das dürftige Programmheft klärt über die künstlerischen Intentionen nicht weiter auf. Dass man automatisch krampfhaft versucht, dem durch die Sänger dazu noch wunderbar artikulierten Text zu folgen, ist schade, denn das lenkt von der guten musikalischen und auch darstellerischen Leistung ab und macht einem auch so manche gute Idee der Regie madig. Denn der Entwicklungsprozess des Kindes, der hier auf die trotzige Tänzerin Claudette übertragen ist, funktioniert durchaus, teilweise auch mit Anklängen an die Verrücktheit des verzauberten Kinderzimmers. Etwa sieht Claudette sich selber aus einem gigantischen Ei schlüpfen, und das Eichhörnchen ist ein kleines Mädchen, dessen Wunde sie verbindet und damit vielleicht sich selbst und ihre eigene Kindlichkeit akzeptiert. Gerade mit der verklärendem Musik zum Ende hin wird das ein versöhnlicher und inniger Moment.

Eine wirklich durchgehend solide Leistung zeigen Bühne und Kostüm. Das Bühnenbild von Detlev Beaujean schafft eine sehr gut vorstellbare Verortung in ein Pariser Varieté-Theater, das sich mit den originellen Kostümen von Renate Schwietert sehr gut ergänzt.

Die Sänger und Tänzer dieser Produktion kommen allesamt von der Hochschule für Musik und Tanz Köln, deren Opernakademie für diese Produktion eine Kooperation mit dem Theater Aachen eingeht. So haben die jungen Talente Gelegenheit, sich auf der Bühne auszuprobieren. Eine „Win-Win-Situation“ für Theater, Hochschule und Publikum, denn obwohl noch in der Ausbildung oder fast fertig, merkt man den Darstellern nur selten an, dass sie noch kaum Bühnenerfahrung besitzen. Kyu Hyun Lee singt die Rolle des Cauchemare, des Alptraums, die die ursprünglichen Rollen des kleinen alten Mannes und des Baumfrosches vereint. Er verkörpert mit seinen Krallen und seinen spitzen Ohren sehr überzeugend eine Art diabolischen Initiator. Maman und Libelle werden von Estelle Hausner besonders gut in ihren strengen Momenten gedeutet, wenn Sie in ihrem mit wogenden Brüsten versehenen Kostüm und schwingender Reitgerte Disziplin verlangt. Die Figur der Tänzerin Missy vereint gleich drei ursprüngliche Rollen – Feuer, Prinzessin, Nachtigall – die von Jessica Grzanna mit vielversprechendem Sopran ausgestattet werden. Marie Seidler als Claudette/L’Enfant macht ihre Sache richtig gut. Stimmlich sowie darstellerisch gelingt es ihr, die Rolle variabel zu deuten, wobei ihr Mezzosopran schöne Klangfarben zeigt. Insgesamt zeigt das Sängerensemble auch in den anderen Partien sängerische Lichtblicke und spürbare Spielfreude.                     

Auch das Orchester der Hochschule unter der Leitung von Herbert Görtz kann auf ganzer Linie mit Professionalität und musikalischem Charme überzeugen.

Das Publikum, darunter viele zu recht stolze Angehörige, applaudiert und jubelt dem Ensemble und Orchester seiner Leistung entsprechend sehr herzlich zu.

Miriam Rosenbohm

 

Fotos: Carl Brunn