Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

Fakten zur Aufführung 

DON CARLO
(Giuseppe Verdi)
9. Februar 2014
(Premiere)

Theater Aachen


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Chat-Faktor


Rezensionen-Archiv

Aufführungen nach Name
Aufführungen nach Ort


 
 

zurück       Leserbrief

Poltergeister im Escorial

Fünfaktige Fassungen von Verdis Don Carlo sind lang und für das Ensemble noch kräftezehrender als die gängigeren vierteiligen Versionen. Aber der meist gestrichene erste Fontainebleau-Akt zahlt sich dramaturgisch aus, indem er die persönlichen und politischen Konflikte im Escorial verständlicher werden lässt. Kompliment für das Theater Aachen, das sich dieser Herausforderung stellt und musikalisch auf beachtlichem Niveau lösen kann. Generalmusikdirektor Kazem Abdullah, der im letzten Jahr mit einem feinfühligen und leuchtkräftigen Simon Boccanegra überzeugen konnte, kämpft in der Premiere allerdings in den ersten drei Akten mit heftiger Nervosität. Über etliche Wackelkontakte zwischen Bühne und Orchestergraben kann man angesichts des Premierenfiebers noch hinwegsehen. Allerdings gelingt es Abdullah nicht, die nötige Ruhe ins Spiel zu bringen, um die feinen Schattierungen der dunkel timbrierten Partitur mit der nötigen Gelassenheit, Transparenz und Autorität hörbar werden zu lassen. Es wird durchweg zu knallig und oft zu hektisch musiziert. Erst in den Monologen und Duetten der letzten beiden Akte findet Abdullah wenigstens streckenweise zu einem angemessenen Tonfall.

Dabei kann er sich auf ein Ensemble verlassen, das teilweise Spitzenleistungen erbringt. Glänzend Andrea Shin in der Titelrolle: ein Tenor mit mühelosem Ansatz, metallischer Strahlkraft und Biegsamkeit in allen Lagen. Kongenial Woong-jo Choi als Filippo mit einem samtweichen, abgrundtief gründenden Bass, dessen optimale Wirkung freilich durch szenische Mätzchen vereitelt werden. Das betrifft auch den Posa von Hrólfur Saemundsson, dessen Bariton zu großer Form aufläuft, wenn er sich ungestört entfalten kann. Was leider nicht oft der Fall ist. Sanja Radišic stattet die Partie der Eboli nicht nur mit der nötigen Sinnlichkeit aus, sondern stemmt auch die gemeinsten Spitzentöne mühelos. Freilich sollte sie diese Grenzpartie nicht zu oft singen.

Irina Popova als Elisabetta kann da nicht ganz mithalten. Ihr Sopran flackert unruhig und härtet in den Höhen deutlich aus. Keine Leistung mit herausragenden lyrischen Qualitäten. Jacek Janiszewski singt den Großinquisitor so blass, wie er ihn darstellen muss. Die restlichen Partien bestätigen das erfreulich hohe Niveau des Aachener Ensembles. Und dazu gehören auch die imposant auftrumpfenden Chöre. Musikalisch eine insgesamt beeindruckende Vorstellung, die durchschnittliches Stadttheater-Niveau weit überragt.

Davon kann bei der Inszenierung nicht gesprochen werden. Michael Helle, ein schauspielerprobter Theaterhase, der auch bereits mit klugen und spannenden Mozart-Inszenierungen auf der Opernbühne überzeugen konnte, enttäuscht diesmal auf ganzer Linie. Das Kolorit, die Atmosphäre und den getragenen Pulsschlag der Musik nimmt er nicht zur Kenntnis und inszeniert weitgehend gegen die Partitur. Noch verwunderlicher: Auch mit Schillers beziehungsweise Verdis Freiheitsappellen kann er offensichtlich nichts anfangen, was sich in teilweise grotesk verzerrten Rollenprofilen niederschlägt. Am ärgerlichsten in Gestalt des liberalen und integren Marquis de Posa, den Helle steif, unterwürfig und konformistisch auf das Briefmarkenformat einer bebrillten Karikatur reduziert. Die Größe der Musik, mit der Verdi Posas Freiheitstiraden nicht nur in dessen Sterbeszene zum Ausdruck bringt, überhört Helle.

Ebenso das würdevolle Pathos, das König Philipp umstrahlt. So differenziert und kritisch Verdi die Figur charakterisiert: Ein cholerisch unbeherrschter Poltergeist, der mit Stühlen um sich wirft und wutschnaubend nach Atem ringt, ist er nicht. Und dass von dem hektisch herumhampelnden, blassen Großinquisitor eine selbst den König bedrohende Gefahr ausgehen soll, bleibt ebenso unverständlich. Ein paar Transparente mit Freiheitsparolen in der als Cocktail-Party verzierten Autodafé-Szene reichen nicht aus, um der politischen Brisanz des Stücks in ihrer Größe und Schärfe gerecht werden zu können.

Erstaunlich, mit welch handwerklicher Verlegenheit Helle selbst die Protagonisten wie im Laienspiel unmotiviert an der Rampe herumlaufen lässt. Die Figuren spielen beziehungslos aneinander vorbei. Spannung, die den psychologischen Eruptionen der Musik entsprechen könnte, bleibt auf der Bühne aus. Die neutral tapezierten Wände der Einheitsdekoration von Dieter Klaß tragen auch nicht zu einer prickelnderen Stimmung bei.

Schade: Das Aachener Theater ist zwar in der glücklichen Lage, eine Herausforderung wie den Don Carlo musikalisch zu stemmen, verspielt aber die Chance durch szenische Unzulänglichkeiten. Das nach dreieinhalb Stunden leicht strapazierte Publikum feierte die musikalischen Kräfte mit Nachdruck und reagiert auf das szenische Team freundlich, aber verhalten.

Pedro Obiera

Fotos: Carl Brunn