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Fakten zur Aufführung 

JULIETTE
(Bohuslav Martinů)
4. März 2015
(Premiere am 14. Februar 2006)

Opernhaus Zürich


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Michel sucht Juliette und findet Absurdistan

Andreas Homoki, Intendant des Opernhauses Zürich, und der Generalmusikdirektor, Fabio Luisi, haben eine Entdeckung gemacht. Mit Juliette von Bohuslav Martinů ist es ihnen eindrucksvoll gelungen, einen surrealistischen Schatz aus seinem Dornröschenschlaf zu neuem Leben zu erwecken. Die unter der Hand zur Chefsache avancierte Juliette erfüllte den damit verbundenen künstlerischen Chef-Anspruch auf allen Ebenen.

Der 125. Geburtstag von Martinů mag auf den ersten Blick eine Neuinszenierung nahe legen. In Wahrheit ist sie, und das beweist die Zürcher Inszenierung auf überzeugende Weise, lange überfällig. 1938 in Prag uraufgeführt, 1959 erstmalig wieder in Wiesbaden noch zu Lebzeiten Martinůs gespielt, verlor sich danach ihre Spur auf den Opernbühnen. Für diesen inszenatorischen Motivationsverlust gibt es sicher viele Argumente wie das absurd verrückte Libretto, von dem man eine Zeit lang die Finger ließ. Auch die dramaturgische Anlage von Musik und Erzählung, die dem Absurden huldigt, entsprach damals nicht dem Geschmack einer gut bürgerlichen Oper.

Genau diese Faktoren sind es jetzt, die für Homoki und Luisi nicht Hinderungs-, sondern Aufforderungsgrund und Motivation sind, diese außergewöhnliche Oper auf die Zürcher Opernbühne zu bringen. Das Außergewöhnliche ist auch gleichzeitig das Absurde. Die Geschichte von Ou la clé des songes – Juliette nach einem Theaterstück von Georges Neveux beginnt schon im Vorfeld mit der Vergabe der Rechte zur Komposition.

Neveux hatte die Rechte an seinem Drama zur Vertonung eigentlich schon Kurt Weill verkauft. Als ihm Martinů, der zur gleichen Zeit an einer Juliette-Komposition arbeitete, einige Passagen vorspielte, war Neveux unmittelbar so begeistert, dass er Weill die Verkaufsrechte mit der Begründung wieder entzog, er habe sich geirrt.

Dieses Muster einer solchen illegitimen Ver-Rückung von allfällig akzeptierten Rechtsordnungen ist, wenn man so will, das surreale Vorspiel von Juliette. Voilà, willkommen in Absurdistan.

Die Story ist schnell erzählt. Michel, ein Pariser Buchhändler, kommt nach drei Jahren in eine nicht näher bezeichnete Hafenstadt zurück, um dort das schöne Mädchen zu finden, vor dem er damals aus ängstlicher Schüchternheit geflohen ist. Er kommt mit dem Zug an, den es gar nicht gibt. Die Bewohner können sich jedenfalls an keinen Bahnhof oder Zug erinnern. Niemand besitzt ein Gedächtnis, das länger als zehn Minuten zurück reicht. Als Michel von ihnen gebeten wird, etwas aus seiner Kindheit zu erzählen, erzählt er von einer Ente als Spielzeug. Die anfangs misstrauischen Bewohner dieser aus der Zeit gefallenen Stadt sind von seiner Gedächtnisleistung so fasziniert, dass sie ihn umgehend zum Capitaine de cette ville küren.

Als er endlich Juliette, eben jenes Mädchen, trifft, kann sie sich ebenfalls an nichts erinnern. Aber weil Michel von der Welt außerhalb ihres Städtchens erzählen kann, will sie ihn liebhaben. Dass das alles nicht in eine Logik von Realität mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft passt, mündet zwangsläufig in eine Surrealität, wo alles grau in grau ist und die Menschen irgendwie verrückt sind. Allein Michel scheinen am Schluss seine eigenen Erinnerungen unglaubwürdig. Er entschließt sich, Juliettes wegen zu bleiben. Aber es gibt nur surreale Hoffnungen auf Normalität, die sich allenfalls in einer normierten Realität erfüllen können. Wie soll das auch gehen, wenn sich Juliette an nichts erinnern kann, was er vor Minuten zu ihr und sie zu ihm gesagt hat?

Das Storyboard von Juliette ist ein visuelles Konglomerat, das aberwitzige Texte fragmentiert ins Bühnenlicht setzt. Auf die Frage nach der inszenatorischen Herausforderung, die sich angesichts eines solchen Librettos stellt, antwortet Luisi, „den Ton zu finden. Für mich ist das keine Grand opéra, ich möchte das Stück … mehr als Komödie mit Musik angehen“.

Da das Komödiantische, wie man weiß, nicht unbedingt auch das Leichteste ist, hat sich der Intendant für die Inszenierung wahrlich keine leichte Aufgabe gestellt. Aber, um es gleich vorweg zu sagen, auf der Grundlage einer konzisen Dramaturgie von Beate Breidenbach und einer mobilen Bühnenkonstruktion, von Christian Schmidt gebaut, hat Homoki ein Bravourstück abgeliefert. Er unterliegt nicht der Versuchung, durch Dekonstruktion dem Surrealen eine wie auch immer geartete Realität zu geben. Ou la clé des songes – Juliette bleibt unaufgelöst.

Die Bühne ist ein Bücherzimmer, das sich mitunter in Minutentakten zu Hauseingang und Straße flexibel verändert. Die Szenenwechsel muten an wie Filmschnitte, wie man sie aus Filmen von David Lynch kennt. Michel erzählt von der Eisenbahn, die es nicht gibt, da fährt sie aber schon durch das Bücherzimmer. Immer wieder ist von einem geheimnisvollen Schiff die Rede, das bald auslaufen soll. Wohin es fährt, und wer die Passagiere sind, bleibt unklar. Gleichwohl ragt ein riesiger Schiffsrumpf verkeilt ins Zimmer, das jetzt Landungssteg oder auch Marktplatz ist. Später ist es auch noch ein geheimnisvoller Wald, wo Juliette Michel treffen will.

Bohuslav Martinů hat eine Opernpartitur geschrieben, die musikalisch eine französisch-impressionistische Färbung hat. Die Musik ist einer französischen Musik-Ästhetik verpflichtet. Obwohl Anmutungen von Igor Strawinskys Le sacre de printemps wie von Claude Debussys Pelléas et Mélisande herauszuhören sind, ist Martinůs Juliette in ihrem Melos singulär.

Die Text-Collagen atmen im Stil von André Bretons Surrealistischem Manifest. Vor allem das Miteinander von Sprech-Dialogen, lautmalerischen Artikulationen und Musik fügen sich zu einem außergewöhnlichen Opern-Kontext zusammen. Verpflichtet allein einer Irritation, von der sich, wie es die Dramaturgin Breidenbach ausdrückt, die Opernbesucher für diesen Moment als einem surrealen Angebot in ihrer alltäglichen Logik erschüttern lassen sollten.

In diesem Setting hat der Sänger des Michel das meiste zu stemmen. Nicht nur eine riesige Anforderung für eine Tenor-Stimme. Die Wechselbäder von Michels Gefühlen, ihren traumatischen Erschütterungen, ihren Albträumen verlangt einen Sänger-Schauspieler mit einem gestischen, mimischen und stimmlichen Repertoire, das schon allein für eine der beiden Seiten der hier zu leistenden darstellenden Kunst eine Herausforderung wäre.

Der kanadische Tenor Joseph Kaisers singt und spielt mit einer, um es auch hier zum wiederholten Male zu betonen, außergewöhnlichen Leidenschaft und Emphase, die das Opernpublikum emotional unmittelbar erreicht. Vielleicht sogar erschüttert. Noch nach mehreren Vorhängen ist ihm die Anstrengung ins Gesicht geschrieben. Erschöpft, aber mit einem Lächeln im Gesicht, nickt er dankbar in die Runde. Kaiser ist eine Entdeckung in dieser Rolle.

Annette Dasch, die mit Juliette genauso wie Kaiser ihr Debüt am Opernhaus Zürich gibt, findet gesanglich, aber eben auch spielerisch auf überzeugende Weise den von Homoki apostrophierten Ton für diese erinnerungslose, ver-rückte Figur. Ihr Sopran ist dunkel grundiert, lyrisch schmiegsam und von brillanter Farbigkeit. Kaiser und Dasch sind als Michel und Juliette surreal – und deshalb trotzdem real. Die Frage, wer eigentlich verrückt und wer normal ist, beantwortet sich in der Regel aus einer Erhabenheitsperspektive, die zu wissen glaubt, was normal ist.

Aus dem großen Solisten-Ensemble, wo jeder einzelne mehrere Rollen zu singen und zu spielen hat, ragt der junge Tenor Airam Hernandez heraus. Mit seinem Tenor gibt er nicht weniger als fünf Rollen überzeugende Charaktere. Seine Stimme verfügt über eine Bandbreite wechselnder Couleurs, die er rollenadäquat einsetzt.  

Fabio Luisi ist in der Chefsache Juliette der musikalische Garant für eine großartige Aufführung. Die Philharmonia Zürich hat bei allem spieltechnischen Stress hörbar auch ihren Spaß. Martinů hat dafür auch jede Menge solistischer Kabinettstückchen, beispielsweise für Solo-Fagott und Englisch-Horn, komponiert. Das Klavier meldet sich in der Manier von Eric Saties Gymnopédies immer wieder selbstbewusst zu Wort, respektive zur Musik.

Die lautmalerische Nachahmung des Enten-Quakens bei Michels Erinnerungen an seine Kindheit klingt aus dem Orchestergraben genauso freudig wie es der spielfreudige Chor multipliziert.

Es steht zu hoffen, dass die Zürcher Chefsache andere Opernbühnen inspiriert, sich nicht länger Juliette zu verweigern.
  
Peter E. Rytz

 

Fotos: Monika Rittershaus