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Fakten zur Aufführung 

APRÈS-SCHNITZEL ODER
MEIN HERZ IST EIN GRAMMOPHON

(Fux-Festival)
4. Juni 2014
(Uraufführung)

Fux-Festival, Fuxpark, Wuppertal


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Der Mensch ist ein Glanz

Im Tanzsaal des Ausflugslokals sind zwei lange Tischreihen aufgebaut. Weiße Tischdecken unter weißen Tellern, auf denen ein Schälchen besonders feingeraspelter Krautsalat und eine rotweißkarierte Serviette angeordnet sind. Ein paar trockene Blümchen dienen in weißen Miniaturvasen als traurige Tischdekoration. Auf der Bühne spielt ein Musiker an der Elektro-Orgel so Sachen wie die Mädchen von Ipanema. An den Tischen ist kein Platz mehr frei. Stimmengewirr flirrt durch die Luft. Gute Laune kommt auf. Kroketten in großen Schalen, Champignonrahmsoße in altmodischen Saucieren und panierte Schnitzel dicht an dicht mit Zitronenscheiben überstreut auf großen Platten werden hereingetragen. So ein wunderbar politisch unkorrektes Essen gibt es ja nicht mehr alle Tage. Après-Schnitzel oder Mein Herz ist ein Grammophon hat begonnen. Eine Uraufführung im Rahmen des Wuppertaler Fux-Festivals im Fuxpark an einem Mittwochabend. Aber wann beginnt die eigentliche Vorstellung? War schon schwer genug auszumachen, wann das Essen beginnt. Da hätte ein Erzähler im Sinne etwa eines Dinner for One geholfen. Jetzt haben alle gegessen; da könnte das Stück allmählich beginnen. Zwei Serviermädchen beginnen schon, die Tische abzuräumen.

Einverstanden. Gutes Personal ist gerade in der Gastronomie schwer zu bekommen. Aber die beiden hier sind ganz besondere Exemplare. Die reichen nicht mal für Ullis Pommesbude in Essen-Katernberg. Die Gäste sind Luft. Rüde wird das Geschirr von den Tischen gerupft, Gäste ob ihrer mangelnden Manieren wie nicht ordnungsgemäß abgelegtem Besteck beschimpft und außerdem: „Das ist doch Scheiße hier. Ich habe auf so was keine Lust mehr.“ Während Kellnerin Therese alles daran setzt, möglichst schnell fertig zu werden, widmet Aushilfe Doris sich ihrem Seelenleben. Zwischenzeitlich betritt auch der saufende Pianist Egon die Szene und klimpert lustlos auf dem Flügel, der links von der Bühne steht – wenn er nicht gerade auf dem Weg ist, ein neues „Gedeck“ zu besorgen. Therese scheppert mit dem vollbeladenen Servierwagen in die Küche und entlädt ihn dort lustlos und lautstark, während Doris davon träumt, in Paris ein Glanz zu werden. Während die Spülmaschine läuft, ist Zeit genug, den Schnapsbestand des Lokals zu probieren. Und immer wieder Lieder mit einem Klang zwischen Jacques Brel und Berliner Lied. Auch mal Bekanntes darunter. Gar eine Arie. Die Tischdecken werden abgezogen. An den Tischen retten die einen ihre Getränke, die anderen halten die Tischdecken fest. Es geht bunt zu. Endlich ist das Gröbste geschafft, Fußböden sind gesaugt und gefegt, das Besteck ist poliert, als Therese Zeit findet, ihre Geschichte zu erzählen. Damals in Berlin, wo sie auch so ein Glanz werden wollte. Zugrunde liegen Texte aus dem Kunstseidenen Mädchen von Irmgard Keun, und die Akteure behalten die schnoddrige, ungeheuer poetisch-bildhafte Sprache bei, ohne zu rezitieren. Sätze wie „Ich hab ein leicht entflammbares Herz, und das leuchtet im Dunkeln“ fallen scharenweise. Diese Mädchen, die so viel Liebe haben, dass sie davon abgeben können, beenden ihren Arbeitstag auf berückende Weise mit der Hymne aller Glücksuchenden und Träumer. Irgendwo auf der Welt … Die Comedian Harmonists haben damit Millionen Herzen beglückt – und es funktioniert auch an diesem Abend wieder. Schließlich geht Träumen immer, bis zum Tod, auch wenn nichts anderes mehr geht.

Es ist ein wunderbar beschwingter, nachdenklicher, berührender Abend. Die Akteure trauen sich das vielleicht Schwierigste, was sich ein Schauspieler herausnehmen kann. Ohne große Show-Bühne, ohne wesentliche Lichteffekte inmitten des Publikums zu agieren, kann man nur dann, wenn einerseits der Stoff stimmt, andererseits die Darsteller so gut sind, dass ihnen das Publikum die großen Gefühle abnimmt. Doris‘ Schwärmerei wird von der Schauspielerin und Sopranistin Annika Boos gnadenlos gut wiedergegeben. Ihre Stimme meistert die unterschiedlichen Klangvariationen von Schlager bis Arie mühelos und mit federnder Leichtigkeit. Für sie ist es ebenso die letzte Spielzeit an den Wuppertaler Bühnen wie für die Schauspielerin Hanna Werth. Und beide zeigen noch einmal, welch herben Verlust die Bürgerinnen und Bürger der Stadt hinnehmen müssen. Werth spielt die erst ruppige, dann großartig seelenweiche Therese mit einer Überzeugungskraft, die dem Publikum mehr als einmal in jeder Hinsicht Respekt abnötigt. Sei es, indem es der rücksichtslos zupackenden Kellnerin lieber aus dem Weg rückt; sei es, das Schlucken zu unterdrücken, wenn sie „ihre Geschichte“ erzählt. Am meisten überrascht allerdings ihre Stimme. Natürlich darf man von einer Schauspielerin eine gewisse Musikalität erwarten, aber das Potenzial, das Werth an diesem Abend zeigt, geht weit über jedes Mindestmaß hinaus. Die Düsseldorfer dürfen sich heute schon freuen: Ab der kommenden Spielzeit wird Hanna Werth das Ensemble des Schauspielhauses bereichern. Etwas unter Wert besetzt ist Dirigent Tobias Deutschmann, der den Pianisten gibt. Also füllt er die Rolle glänzend aus und rundet damit die Spitzenleistung des Abends ab.

Übrigens hat sich das echte Gastronomie-Personal des Fuxparks als serviceorientiert, hilfsbereit und überaus freundlich erwiesen. Das Publikum applaudiert deshalb nicht nur frenetisch den exzellenten Leistungen der Uraufführung, sondern auch dem „Gesamtwohlgefühl“ des Abends.

Michael S. Zerban

Fotos: Claudia Scheer van Erp