Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

Fakten zur Aufführung 

THE RAKE'S PROGRESS
(Igor Strawinsky)
28. Juni 2014
(Premiere)

Mainfranken Theater Würzburg


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Chat-Faktor


Rezensionen-Archiv

Aufführungen nach Name
Aufführungen nach Ort


 
 

zurück       Leserbrief

Im Irrenhaus eines fehlgeleiteten Lebens

Der Untergang all dessen, was die westliche Welt an kulturellen und moralischen Werten im Zweiten Weltkrieg verliert, wird gleichnishaft deutlich in Igor Strawinskys Oper The Rake’s Progress aus dem Jahr 1951. Eigentlich ist sie von der Handlung her ein Anachronismus, denn sie bezieht sich auf einen Stoff aus dem 18. Jahrhundert, den Strawinsky 1947 beim Besuch einer Ausstellung von William Hogarths Grafik-Zyklus gesehen hat, versetzt das Ganze aber in seine Gegenwart. Das Geschehen beschreibt, wie ein ungefestigter junger Mann, verführt von der Aussicht auf Reichtum und gesellschaftliches Ansehen und durch einen falschen Freiheitsbegriff, den man als hemmungslose Libertinage bezeichnen kann, immer mehr absteigt, schließlich in Wahnsinn verfällt und in einer Irrenanstalt landet. Sein einziger „Halt“, auf den er aber nichts gibt, ist seine treue Jugendliebe Anne, und am Ende seines Lebens, als er sich für Adonis hält, kann er sie noch als Vision der Venus anbeten. Als auch dieses Bild entschwindet, stirbt er. Doch eine „echte“ Moral, also eine Nutzanwendung, verknüpft der Komponist zusammen mit seinen Textdichtern Wyan Hugh Auden und Chester Kallman in seiner Oper nicht, auch wenn am Ende verkündet wird: „Für Faule findet der Teufel immer eine Beschäftigung“. Gesellschaftskritik findet hier eher verdeckt statt. Und auch die Handlung selbst ist schwer einzuordnen mit ihren Motiven zwischen Märchen, Idylle, dem frühen 20. Jahrhundert, der Welt der Bohème und den Anspielungen auf antike Mythen. Dazu kommt, dass Strawinsky sich hier alter Muster im Musikalischen bedient; so gibt es einen strengen Aufbau in drei Akten, nach Nummern und Ensembles, Rezitative am Cembalo. Auch die Vorbilder, etwa die barocke Oper, Rossini, Mozart oder Gounod, sind zu hören, allerdings nur als Erinnerung, sublimiert und eingebunden in Neues. Das macht ohne Zweifel einen Reiz dieses Werks aus.

Regisseur Stefan Suschke gelingt nun am Mainfranken-Theater Würzburg eine in allem zwingende, Sinn stiftende Umsetzung der Oper. Er versetzt sie einerseits in die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, in der alles durch das Chaos der Zerstörung am Rande des Wahnsinns treibt: So blickt der Zuschauer schon zur Ouvertüre in ein etwas ramponiertes, überfülltes Irrenhaus mit altem Radio auf dem Kamin, aus dem dann, am Schluss, wie ein Kommentar aus der Ferne, die „Moral“ ertönt. Andererseits lässt er wie in einem träumerischen Rückblick all die Szenen Revue passieren, die Tom Rakewell in den irrsinnigen Abgrund haben treiben lassen, ausgehend von der bewussten Abwendung aus der Geborgenheit, hinein in das ausschweifende Leben in London. Und dort ist im Hintergrund immer schon der Wahnsinn an den Figuren, die sich da bewegen, zu ahnen. Die Bühne von Momme Röhrbein verweist von Anfang an auf das Ende; es ist ein Raum mit hohen Fenstern zu beiden Seiten eines Portals, einem Treppenaufgang in der Mitte mit Portikus und Säulen. Ganz schnell verwandelt er sich durch künstliche Blumen-Kulissen und Öffnung in einen Garten, mit roten Vorhängen in ein Bordell, dann mit Draperien in eine Villa, mit Gestrüpp und Nebel in einen Friedhof und eben in das Irrenhaus. Dass bei der seltsamen Hochzeit Toms auch ein Rolls Royce sichtbar wird, ist ein besonderer Gag. Außerdem hat die dampfende Brotmaschine, durch die Tom angeblich reich, in Wirklichkeit aber bankrott wird, etwas von einem Hölleninstrument an sich. Auch der Edel-Kitsch bei der Versteigerung des Salons verweist optisch auf die Irrungen der Gesellschaft. Verstärkt wird das noch durch die Kostüme von Angelika Rieck. Sie unterstreichen in ihrer Vielfalt das Übersteigerte, Überspitzte dieser irrealen Welt des ungehemmten Genusses und finden sich dann abgewandelt wieder im Aussehen der Irrenhaus-Insassen. Ein besonderer Hingucker ist das aufreizend vulgäre, sexy Kostüm der Puffmutter Goose und natürlich die bärtige Jahrmarktsattraktion Baba the Turk im rosa glitzernden Fummel, stark an Conchita Wurst erinnernd.

Dass die Oper nicht moralinsauer daherkommt, sondern unbestreitbar Unterhaltungswert besitzt, dafür sorgt neben der bravourösen, lebendigen Inszenierung auch die musikalische Umsetzung. Unter Enrico Calesso spielt das Philharmonische Orchester Würzburg in kleinerer Besetzung, wie es Strawinsky vorschreibt, mit feinem Gespür für Intensität innerer Regungen, mit rhythmischer Präzision und klangschön; hervorzuheben sind die ausgezeichneten Bläser. Auch der Chor, einstudiert von Michael Clark, steht dem in nichts nach, gefällt in Bewegung und Homogenität.

Eine ganz herausragende Leistung bietet die amerikanische Sopranistin Christine Graham als Anne Trulove. In ihrem Rollendebüt bewältigt sie souverän mit ihrer hell-kräftigen, elanvollen, in den Höhen sehr klaren Stimme alle Klippen der Partie mit den vielen Sprüngen, und wenn sie im Anfang im Frühling als blondes, naives Mädchen im Blumenkleid, später, als Engel unter dem Rosenbogen schwebend, ihre selbstvergessene Liebe zu Tom besingt, dann weiß der Zuschauer auch aus ihrer Darstellung, dass dieses Glück nur ein Wunschtraum ist, mit Skepsis zu bewerten. Dieser Tom Rakewell wird von Joshua Whitener sehr überzeugend zuerst als abenteuerlustiger, leichtsinniger junger Mann gegeben, dann als gelangweilter Beau und schließlich als mutloser, vergammelter Gescheiterter verkörpert; mit seinem schön timbrierten, strahlend sicheren Tenor beherrscht er auch alle dazu erforderlichen Ausdrucksnuancen. Seine dunkle Seite, sein Schatten ist Nick Shadow. Nicht nur in starrer Körperhaltung und Miene, auch in seinen beschwörenden Gesten vermittelt Johan F. Kirsten etwas Bedrohliches, geheimnisvoll Gefährliches, ist so eine Art Zwitter zwischen Don Giovanni und Mephisto, ein Verführer zum Bösen, der schließlich auch, besiegt von der Liebe, rot beleuchtet, zur Hölle hinab fährt, aber am Schluss wieder als Arzt in der Irrenanstalt auftaucht. Mit seinem in jeder Lage wohlklingenden, fülligen Bassbariton unterstreicht er diese zwielichtige Gestalt. Tom kann sich nie von ihm befreien; erst im Tod, als er und Anne, vereint im Dunkel, im Rollstuhl sitzen, scheint er erlöst. Da ist es zu spät. Doch traurige Gedanken kommen eigentlich selten auf. Dagegen helfen schon die eher skurrilen Szenen, etwa wenn Barbara Schöller als Sexgebieterin Mother Goose auftritt, wenn, urkomisch und grotesk, Sonja Koppelhuber als rundum verschleierte Braut und dann bärtige Glitzerlady Baba the Turk mit ihrem dunklen, vollen Mezzosopran die Wut auf ihren Angetrauten rauslässt, um ihn schließlich fortzujagen, denn sie will wieder ins Geschäft der Unterhaltungsbranche einsteigen. Besonderen Unterhaltungswert besitzt auch die Versteigerungsszene mit Auktionator Sellem, wenn Paul McNamara als kleiner Napoleon die geschmacklosesten „Schnäppchen“ mit festem Tenor raffgierigen Interessenten anpreist. Immer gegenwärtig ist Herbert Brand als Vater Trulove und Wärter im Irrenhaus – die Doppeldeutigkeit dieser Rolle ist sicher gewollt.

Im leider nicht voll besetzten Haus – Festivals rundum und der relativ unbekannte Titel fordern ihren Tribut – feiert das Premierenpublikum lange und mit lautem Jubel einhellig diese hervorragende Inszenierung und die ausgezeichneten Sänger. Zu wünschen ist, dass bei den weiteren Vorstellungen mehr Musikinteressierte den Weg ins Würzburger Theater finden. Es lohnt sich.

Renate Freyeisen

 

Fotos: Falk von Traubenberg