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Fakten zur Aufführung 

BIANCA E FALLIERO
(Gioachino Rossini)
24. Juli 2015
(Premiere am 18. Juli 2015)

27. Belcanto-Opera-Festival Rossini in Wildbad, Kulturzentrum Trinkhalle


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Stupende Belcanto-Trouvaille

Richard Osborne, Verfasser einer kenntnisreichen Biographie über den Meister von Pesaro, windet dem 1819 für die Mailänder Scala geschriebenen Melodramma Bianca e Falliero ossia Il consiglio dei tre keine Kränze. Abgesehen von dem Anfangserfolg, beurteilt der Autor die Wirkungsgeschichte des Zweiakters, sei das Werk „nach einer Dekade von Bearbeitungen und Verstümmelungen“ mit Ausnahme der einen oder anderen Arie dem öffentlichen Bewusstsein praktisch entglitten. So gesehen, ist die deutsche Erstaufführung der Rarität abseits des Rossini-Mainstreams in der 27. Ausgabe des Belcanto Opera Festivals in Bad Wildbad, schon eine Nachricht für die Opernszene. Nun gut, Trouvailles wie Torvaldo e Dorliska im Jahr 2003 oder Le Siège de Corinthe aus 2010 sind unverzichtbare Bausteine des Markenkerns eines kleinen Festivals, das auf staunenswerte Weise Jahr für Jahr Großes leistet. Warum sonst sollte sich die Schar der Connaisseurs – nicht nur aus der Region, auch insbesondere aus Belgien, Frankreich und der Schweiz – im schwülheißen Juli auf die Reise in das enge Schwarzwaldtal machen, wenn es eh nur Barbiere oder Cenerentola geboten bekäme? Zum Ereignis und damit über den bloßen Neuigkeitswert hinausreichend wird die deutsche Erstaufführung der Komposition allerdings erst durch die Art und Weise, wie an der Enz Rezeptionsgeschichte geschrieben und weiterentwickelt wird. Eines der letzten Werke Rossinis in und für Italien offenbart eine Belcanto-Qualität mit einer Wucht, die es mit jedem Sommergewitter über dem kleinen Kurort aufzunehmen versteht.

Der von Rossinis Librettist Felice Romani geschaffene Plot beruht auf Antoine-Arnault Vincents Drama Les venitiens ou Blanche et Montcassin. Für sich betrachtet, fehlt es der Geschichte um eine Familienkontroverse in gehobenen Kreisen im Venedig des 17. Jahrhunderts einfach an literarischem Kaliber. Umso krasser wird die Auseinandersetzung um väterliche Autorität und jugendliches Rebellentum dann noch durch den rüden Eingriff Romanis, der dem Stoff seine ursprüngliche Brutalität nimmt und ihn auf ein happy end trimmt. Glaubwürdig ist die Kehrtwende insbesondere bei der ambivalenten Figur des Capellio nicht, dem Bianca durch ein Machtwort ihres patriarchalischen Vaters Contareno versprochen ist. Capellio verzichtet zugunsten Fallieros auf Bianca und durchkreuzt so quasi in letzter Sekunde das Todesurteil des Dreierrats, das im Original gegen sie vollstreckt wird. Als Fundament für eine große Oper, die Rossini, kompositorisch schon auf dem Weg nach Paris und hin zum Stil der Grand opéra sieht, taugt der Stoff dagegen allemal. Geradezu perfekt passt ihn Romani einer Vorgabe der Mailänder Scala an, nämlich pezzi concertati den Vorrang gegenüber Arien einzuräumen. Eine Referenz gegenüber der Erwartung des Publikums, eine Steilvorlage für Rossini, trunken nach Ensemblerausch.

Bianca e Falliero aufführen zu wollen, verlangt, ein Ensemble von zwei bis vier Sängern der Spitzenklasse zusammenzubringen. Bei einer der wenigen, auch auf Tonträgern zugänglichen Aufführungen des Stücks, 1986 beim Rossini Festival in Pesaro, gelingt das mit Katia Riccarelli und Marilyn Horne in den Titelrollen sowie Chris Merritt in der Partie des Contareno exemplarisch. Die damaligen Stars singen jeweils an ihrem Zenit. Dass nun Antonino Fogliani, der Dirigent der Aufführung und musikalische Leiter des Festivals, und Intendant Jochen Schönleber eine ähnlich exzellente Besetzung zuwege bringen, ist da schon ein kleines Wunder. „Wir sind in gewisser Weise der Provinzclub, der in der Champions League spielt“, hat Schönleber 2010 die Position seines Festivals selbstironisch skizziert. Fünf Jahre später rechtfertigt die Besetzungsliste von Bianca e Falliero diese Paraphrase in eigener Sache überzeugend.

Osborne nennt den Einsatz eines Travestie-Helden unter den Hindernissen, die einer Aufführung des Melodrammas entgehen stehen könnten. Die Mezzosopranistin Victoria Yaroveya in der Hosenrolle des Generals Falliero wendet den vermeintlichen Nachteil in sein Gegenteil. Sie bringt alles mit und ein, was diese Partei mit höchsten Anforderungen im Fach Dramatischer Belcanto-Koloratursopran einer Sängerin nur abverlangen kann: Virtuosität und Ungestüm, prunkvolle Tiefe und schneidende Höhe, eine vokale Geläufigkeit, die die Gipfelstürme in den Accelerando-Passagen in reines Vergnügen verwandeln, eine stupende Leidenschaft, die sie in einem Atemzug mit den historischen Größen dieser Sparte nennen lässt, Marilyn Horne etwa oder auch Agnes Baltsa.

Eine vergleichbare Belcanto-Autorität lässt nach ihr Kenneth Tarver als Contareno erkennen. Der Tenor, in Wildbad als Bertrando in L’inganno felice und Giannetto in La Gazza ladra in bester Erinnerung, erobert in der Partie des Contareno im Gegensatz zum brutalen Charakter dieser Rolle das Publikum durch seine subtile Gesangstechnik, seine Fähigkeit zum Aussingen langer Gesangslinien ohne Effekthascherei und seine Souveränität in den Koloraturen mit Bravour. Über Rossini-affine vokale Fähigkeiten verfügt auch Baurzhan Anderzhanov als Capellio. Der Bassbariton, Wildbads Lord Sidney in Il viaggio a Reims im vergangenen Jahr, ist mit markanter, klug geführter Stimme mal verlangender Liebhaber, dann edelmütiger Senator, der durch Zurücknahme seines Ego an Größe gewinnt. Keine Offenbarung ist hingegen Cinzia Forte als Bianca. Die erfahrene und vielfach gefragte Sängerin verfügt zwar über einen technisch ausgereiften Sopran, der sie für vieles prädestiniert, vor allem Mozart, aber dem es an der Tessitura für diese Feuerpartie unter Rossinis hochsensiblen Primadonnen zu ermangeln scheint. Auch wenn ihr, etwa in der Kavatine Della Rosa il bel Vermiglio, die eine oder andere große Bühnenperformance gelingt. 

Gleichwohl: Insgesamt kommen beste Voraussetzungen für die pezzi concertati, prachtvolle Duette und sonstige Ensemblenummern, zusammen, die den Reiz jeder Aufführung von Bianca e Falliero ausmachen. Ein Highlight unter mehreren: das Quartett Cielo, il mio labbro ispira, dem auch Osborne ein Eigenleben jenseits des ganzen Werks zuspricht. Das Wildbader Belcanto-Glück ist nicht zuletzt den Virtuosi Brunenses und den Damen und Herren des Bachchors Poznań zu verdanken, die sich, ungeachtet eines strapaziösen Mehrfacheinsatzes, mit Energie und Leidenschaft für den idealen Rossini-Sound und eine vitale Theaterszene ungeachtet der notorischen Enge in der Trinkhalle engagieren. Großer Respekt! Letztlich gilt der auch den Akteuren in den weiteren Rollen, so Laurent Kubla als Priuli, Doge von Venedig, ferner Marina Viotti als Costanza, Artavazd Sargsyan als Pisani, Ufficio und Usciere sowie Marcin Banaś als Loredano. Die Akteure in den Nebenrollen fallen dabei nicht ab, aber auch nicht wirklich auf. Rossini hat ihnen nicht eine Arie auf die Kehle geschrieben. Ihm ging es um die Champions auf der Bühne und, natürlich, um seinen Ruhm.

Und die Inszenierung? Primo Antonio Petris, der Regie, Bühnenbild und Kostüme verantwortet, hat klugerweise den Versuch unterlassen, der alles erschlagenden Musik noch eine weitere Dimension hinzufügen. Petris begnügt sich mit Assoziationen zum Schauplatz Venedig, so durch die spezifischen Masken, mit denen der Chor ausgestattet wird, und allerlei Motive zu Dom und Lagune, die auf den Bühnenhintergrund projiziert werden. Dann und wann werden Skulpturen aufgefahren, die die jeweilige Gemütslage der Entschlossenen oder Verzweifelten zu kommentieren scheinen, letztlich aber bedeutungslos bleiben. Die Protagonisten bewegen sich in Abendgarderobe, Smoking und Dinnerjacket, warum auch immer. Zu Beginn erscheinen Contareno und Capellio, wie in einen goldenen Bilderrahmen gefasst. Das Bild löst sich dann allerdings rasch auf, wie so manches an diesem Unterfangen, einem schwachen Wortdrama Theaterbedeutung zu verleihen.

Sei’s drum: Das Publikum im überhitzten großen Saal der Trinkhalle hat die Belcanto-Rarität längst als Ereignis für sich vereinnahmt. Es quittiert, vielleicht auch erschöpft nach mehr als drei Stunden emotionaler Extremanspannung, die Leistungen aller Mitwirkenden mit Jubel und anhaltendem Applaus. Der Provinzclub hat einmal mehr in der Champions League gespielt. Was ließe sich mehr erwarten?

Ralf Siepmann



Fotos: Patrick Pfeiffer