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Fakten zur Aufführung 

ADELAIDE DI BORGOGNA
(Gioachino Rossini)
23. Juli 2014
(Premiere am 19. Juli 2014)

26. Belcanto-Opera-Festival Rossini in Wildbad, Kulturzentrum Trinkhalle


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Russiana an der Großen Enz

Versuchen Sie einmal, sich in das folgende Szenario hineinzudenken. Hinter Ihnen das sanguinische Gemurmel der Großen Enz, vor Ihnen ein fangfrisches Prachtstück aus der nah gelegenen Forellenzucht plus Spargel oder ein Gemüse der Saison, ergänzt um einen kühlen, trockenen badischen Wein. Das Ganze bei sommerlichen Temperaturen in einem Ambiente von savoir vivre im Nordschwarzwald. Könnten Sie sich auf dem Höhepunkt des Genusses einen Grund vorstellen, der Sie veranlasste, Ihren Sitz auf der luftigen Restaurantterrasse freiwillig für einen Platz mit mäßiger Beinfreiheit in einem aufgewärmten Veranstaltungssaal einzutauschen? Wohl kaum, nicht wahr? Oder doch? Denn einen Grund gibt es. Er heißt Adelaide di Borgogna, die Seria, die Rossini 1817 für Rom schrieb. Dort findet sie beim Publikum zwar keine sonderliche Aufnahme, erwirbt sich indes auch kein Negativimage. Mit La Cenerentola oder auch La Gazza Ladra – Erfolgsopern aus demselben Jahr – steht sich der Komponist praktisch selbst im Wege. Die Wirkung von Rom verblasst. Erst London 1978 und Pesaro 2011 durchbrechen das scheinbare Kartell der Lieblosigkeit unter Intendanten und Regisseuren gegenüber der adeligen Frau aus dem Burgund. Wie lohnend diese Zuwendung sein kann, beweist nun das Belcanto-Festival Rossini in Wildbad mit der ersten szenischen Aufführung des Werks im deutschsprachigen Raum grandios. Die Prognose sei gewagt: Adelaide di Borgogna wird uns zukünftig auf den Spielplänen diverser Musiktheater wiederbegegnen.

Unter den Produktionen mit unmittelbarem Bezug zu Rossini ist der Zweiakter bei der 26. Auflage des tapferen Festivals im Nordschwarzwald sicher das couragierteste Projekt, das Intendant Jochen Schönleber präsentiert. Selbst an dem einzigen Ort außerhalb Italiens, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Zugänge zu weniger bekannten und populären Werken des Komponisten zu eröffnen, laufen Rossini-Raritäten beim Publikum Risiken. Eine Einschätzung, die durch etliche leere Plätze bei der Premiere und der zweiten Aufführung bedauerlicherweise bestätigt wird. Dabei ist das wuchtige Drama auf ein Textbuch des Neapolitaners Giovanni Schmidt, der seine besten Libretti übrigens für Rossini schrieb, ganz sicher mehr als eine Vorstudie zu den späteren Seria-Hits vom Kaliber Maometto II. oder Semiramide. Rossinis Oper ist eine musikalisch geschlossene Einheit, quasi ein Unikat, das fast ohne Anleihen am eigenen Werk auskommt. Die Partitur fordert viel von Orchester und Sängern, belohnt indes beide mit „grandiosen Stellen“ und allerlei Gelegenheiten zu Glanzstücken und stürmischem Publikumsapplaus.

Insbesondere den Hauptfiguren Adelaide und Ottone schenkt Rossini superbe Solo-Arien und zwei vehemente Duette, die die Virtuosität der Belcanto-Hits von Semiramide und Arsace sechs Jahre später schon erahnen lässt. Konzipiert sind sie für die primadonna soprano in der Titelrolle und die primadonna contralto in der Hosenrolle, in der – ungewöhnlich genug – immerhin ein veritabler deutscher Kaiser agiert. Womit wir bei der Geschichte wären, die der Handlung zugrunde liegt. Diese ist im Italien des zehnten Jahrhunderts angesiedelt. Berengario hat den König ermordet und dadurch die Königin, Adelheid von Burgund, zur Witwe gemacht. Von ihren Feinden in der Burg Canossa belagert, die Bett und Krone begehren, setzt sie alles auf die Karte des deutschen Kaisers, durch den sie auf Befreiung hofft. Das Kalkül geht voll und ganz auf. Ottone obsiegt und ruft sich zum neuen König Italiens aus. Adelaide und Ottone finden auch privat zueinander und werden ein leidenschaftliches Liebespaar. Ein glücklicher Umstand für den großartig aufgelegten Komponisten und das Wildbader Publikum, das im zweiten Finale mit dem prachtvollen Rondo Ottones geradezu enthusiasmiert wird.

Inszenierung und Bühnenbild stammen von dem italienischen Regisseur Antonio Petris, der in den letzten Jahren an der Enz bereits mehrfach Produktionen realisiert hat, so die Rossini-Kreation Adina. „Das Wichtige“, sagt Petris zu seinem Konzept für Adelaide di Borgogna, „sind die Gefühle und weniger der Standort.“ Folgerichtig bietet sein Wildbader Bühnenraum mit gelegentlichen Videoprojektionen im Hintergrund nicht „Schauplätze“, die die Aufmerksamkeit der Zuschauer binden, sondern räumliche Arrangements, in denen die Protagonisten ihre Emotionen ausleben können. Und das tun alle mit Hingabe, großer Virtuosität und einer elementaren Leidenschaft, die nicht an jedem der zahlreichen aktuellen Festspielorte selbstverständlich sein dürfte. In die Annalen des Festivals dürfte die Produktion als „Russiana“, als Rossini-Spezialität mit genuin russischem Kolorit, eingehen. Margarita Gritskova, mittlerweile Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper, als Ottone und Ekaterina Sadovnikova, seit einigen Jahren an den renommiertesten Häuser von London bis München zuhause, in der Titelrolle repräsentieren beste Moskauer Schule und die Qualität des Konservatoriums St. Petersburg, das beide absolviert haben. Die Gritskova ist schlicht eine Offenbarung in Spiel und Gesang. Ihr Mezzo ist voluminös, in Höhe, Mittellage und Tiefe von konstanter Präsenz und voller Belcanto-Glut, wenn das die Rolle verlangt. Sie meistert die größten vokalen Sprünge und die expressivsten Momente mit einer Leichtigkeit und Raffinesse, die schlicht staunen lassen. Die Sopranistin Sadovnikova ist ihr nicht nur ein kongenialer Counterpart in den lodernden Duetten der beiden, sondern beweist, beginnend mit ihrer Kavatine im ersten Akt, ihr großes Potenzial: sinnlich, verführerisch, opulent.

Angesichts dieser Frauenpower dürfte es fast verständlich sein, dass die männlichen Protagonisten in dieser Produktion ein Stück hintanstehen. Einige Besucher werden sich wohl als „dritte Kraft“ im russischen Bunde den in Moskau ausgebildeten Tenor Maxim Mironov als Adelberto gewünscht haben. Zu erleben war dieser in der konzertanten Festaufführung des Werks zum Auftakt des Festivals anlässlich der Wiedereröffnung des Königlichen Kurtheaters nach langer Bauphase. Der rumänische Tenor Gheorghe Vlad, in der szenischen Fassung der Gegenspieler und Herausforderer des royalen Pärchens, verfügt zwar über ein angenehmes Rossini-affines Timbre. Seine stimmlichen Mittel erscheinen allerdings limitiert und im Ausdruck wenig flexibel. Der Bass des kasachischen Sängers Baurzhan Anderzhanov ist dagegen von einem anderen Kaliber. Er gibt den Usurpator Berengario mit kriegerischer Schwärze und stimmlicher Souveränität, hat aber als Randfigur im Personal dieser Oper nicht allzu viele Gelegenheiten, das weiter auszubauen. Mit Miriam Zubieta als Eurice, Yasushi Watanabe als Iroldo und Cornelius Lewenberg als Erneso sind die Nebenrollen aufmerksam besetzt.

Seit etlichen Jahren sind die Virtuosi Brunenses dem Belcanto-Festival eng verbunden, so etwas wie eine Qualitätsverbürgung Schönlebers. Diesmal liefern sie ihre brilliante Performance unter der Leitung von Luciano Acocella ab, GMD der Opéra de Rouen-Haute Normandie. Die Melodien dürfen sich entfalten. Die Abstimmung mit dem singenden Personal überzeugt. Subtiles hat seinen Raum und Rang – ein Eindruck, der nicht zuletzt durch die Verwendung des Hammerflügels verstärkt wird. Michele D-Élia begleitet die Secco-Rezitative mit professioneller Kompetenz und großem Einfühlungsvermögen. Last not least beeindruckt der von Ania Michalak einstudierte Camerata Bach Chor Poznań, den das Wildbader Publikum bereits seit vier Jahren zu schätzen weiß. Wie sie nicht nur die Partitur meistern, sondern auch die extrem wechselvollen Anforderungen an ihre spielerischen Fähigkeiten, nötigt hohen Respekt ab.

Das Publikum feiert am Ende alle Mitwirkenden mit anhaltendem lebhaftem Beifall – sichtlich und hörbar von dem Bewusstsein geleitet, sich nicht nur auf eine cosa rara, sondern auf eine rare Kostbarkeit eingelassen zu haben. Das Belcanto-Festival Rossini in Wildbad hat einmal mehr Geschichte geschrieben, Aufführungsgeschichte gewiss, vielleicht auch Repertoiregeschichte. Man wird sehen und, vor allem, hören.

Ralf Siepmann



Fotos: Patrick Pfeiffer