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Fakten zur Aufführung 

THE RAKE'S PROGRESS
(Igor Strawinsky)
10. Juni 2014
(Premiere)

Teatro Regio Torino


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Zeitenwanderung der menschlichen Innenwelt

Das Teatro Regio di Torino ist im heutigen Opernbetrieb Italiens ein solider Faktor. Über ein Dutzend Produktionen pro Jahr im Stagione-Prinzip, italienisches Kernprogramm, Verdi, Puccini, Rossini, aber auch das eine oder andere Stück jenseits des Mainstreams, so in der zu Ende gehenden Spielzeit Zemlinskys Eine florentinische Tragödie und eben Strawinskys The Rake’s Progress. Eine Premiere im strengen Sinne ist diese dritte Edition des Werdegangs eines Wüstlings in der Oper der Metropole Piemonts nach 1972 und 1999 allerdings nicht. Die Inszenierung entstand in Koproduktion mit der Scottish Opera Glasgow. Dort stand sie 2012 viermal auf dem Spielplan, weitere viermal beim Festival Theatre Edinburgh. Das schottische Team David McVicar, Regisseur, und John Macfarlane, Bühnenbild und Kostüme, bringt auch in Turin den monströsen Bilderbogen nach der Gemälde- und Kupferstichserie des englischen Malers William Hogarth auf die Bühne.

Das englischsprachige, von Strawinsky in Amerika vertonte Libretto stammt von W. H. Auden und Chester Kallman. Und so singen die Protagonisten auch in Turin in Englisch. Italienischsprachige Untertitel erleichtern es dem Publikum, den Weg Tom Rakewells, dieser britischen Variante des Faust-Mythos, durch die Märkte, Spielhöllen, Bordelle und Irrenhäuser Londons um 1730, also zu Zeiten Händels dort, zu verfolgen. Das ist auch nötig und sinnvoll, weil es einmal nicht um die hier gewohnten Textbücher des italienischen Repertoires eines Giuseppe Giacosa oder Luigi Illica geht.

Die Obsessionen des Titelhelden, die verführerischen englischen Parklandschaften, die Schattenseiten Londons in seiner vielleicht hässlichsten Epoche, die „Opern in der Oper“, die musikalischen Anspielungen also auf der Metaebene des Genres, die der Komponist souverän ausstreut – es gibt viele Ansätze in der darstellenden wie der gesanglichen Dimension, sich mit diesem Solitär des neoklassizistischen Strawinsky auseinanderzusetzen. Und jede scheint die Frage nach dem künstlerischen Rang des Werks neu aufzuwerfen und, so der konzeptionelle Parcours gemeistert wird, schlüssig zu beantworten. Am Teatro Regio Torino ist das der Fall. McVicar, Macfarlane und Gianandrea Noseda, der Dirigent und Musikdirektor des Hauses, lassen uns – wie weiland Georg Büchner seinen Wozzeck – in den Abgrund der menschlichen Natur blicken: die Verletzlichkeit der Psyche, die Zerbrechlichkeit des Schönen und die Rohheit des Gemeinen. Das Ganze aber gepaart – wie in Neil Postmans analytischer Durchdringung des modernen Medienzeitalters – mit der Lust am Amüsement. Vernunft und Moral sind die letzten Antriebe der Rakewells dieser Welt, damals, im demnächst entstehenden, heute, im vollendeten und destruktiven Kapitalismus.

In der Turiner alias Glasgower Produktion ist das Spektakulum um die Regression des sich nicht selbst gewissen Mannes zuvörderst ein Fest für die Augen. Pastelltöne zu Beginn in der Gartenszene rund um Trueloves Anwesen, steif-vornehm die Kostüme im Rokokostil, grellbunte Farben im Bordell der Mother Goose und manch groteskes Inventar im Irrenhaus, in das sich Tom in seinem Wahn geflüchtet hat, Nachtschwärze in der Friedhofsszene – Hogarths Bilderwelt wird auf eindrucksvolle Weise neu belebt und bisweilen dämonisch-plastisch, einfach zum Schaudern. Symbole der Vergänglichkeit verdeutlichen unabweisbar, was hier zur Verhandlung steht: ein Totenschädel, zu Beginn projiziert auf den Bühnenvorhang, die Hand eines Skeletts, die, von Szene zu Szene variiert, durch das Geschehen wandert. Das sehr vom Theater bestimmte Spiel erfährt durch die Choreographie Andrew Georges seine besondere Prägung. Der von Claudio Fenoglio einstudierte, vorzügliche Chor und allerlei sich patent bewegende Statisten präsentieren eine bemerkenswerte Freude an der Aktion. Bewegte und bewegende Bilder einer Ausstellung, einer Ausstellung der menschlichen Innenwelt.

Ist schon das Spiel im altmodischen Musiktheater Strawinskys eine Erbauung, so ist es die Musik selbst, die Noseda mit dem Orchester des Teatro Regio Torino herbeizaubert, nicht minder. Sein Dirigat ist vom ersten Takt bis zum Epilog im Stile des Finales von Don Giovanni intensiv. Minutiös geht er die variierenden Formelemente in der Tradition Mozarts vom Rezitativ, secco oder accompagnato, über das instrumentale Zwischenspiel, die Arie bis hin zur Ensemblenummer an. Die Musiksprache eines Zeitalters, dem wir bis heute die Klassik per se verdanken, wird so nicht nur reproduziert, sondern auch plastisch modelliert. Ein Zeitalter wird besichtigt, gleichsam mit einer orchestralen Zeitmaschine, so fern und an diesem Abend so nah.

Emotional noch näher kommen dem Publikum vor allem die Protagonisten des Liebespaares, die in den USA lebende australische Sopranistin Danielle de Niese als Anne Trulove, der italienisch-amerikanische Tenor Leonardo Capalbo in der Rolle des Tom. Während de Niese eine an zahlreichen Barock-Partien geschulte betörende vokale Innigkeit ausstrahlt, überzeugt Capalbo, einst Schüler von Marylin Horne, mit vokalem Glanz und der Wucht einer Stimme, die sich in zahlreichen Interpretationen von Rollen bei Verdi und Donizetti gebildet und entwickelt hat. Beide spielen zudem vorzüglich. Mozart, kein Zweifel, hätte sie für die Uraufführung seiner Le Nozze di Figaro mit Wonne besetzt. Aristokratisch in Stimme und Erscheinung ist an diesem Abend der dänische Bariton Bo Skovhus, der den dämonischen Nick Shadow mit Grandezza und großer Statur gibt. Die französische Mezzosopranistin Annie Vavrille ist mit einem von der Rolle verlangten gewissen Maß an Selbstverleugnung eine höchst professionell agierende „Türkenbab“, der dänische Bass Low-Jakob Zethner mit seinem sonoren Organ eine Respekt erheischende Besetzung des Trulove.

Ein Teil des Publikums hat in der Pause vor dem dritten Akt das Auditorium verlassen. Müßig, über die Gründe zu spekulieren. Turin hat an einem heißen Sommerabend so manches zu bieten. Der Saal letztlich feiert das gesamte Team der Produktion, insbesondere die Sänger und unter diesen mit Verve den Tenor Capalbo. Offenkundig wird er ein Stück weit an diesem Abend als local hero empfunden. Nach der eher englischen Gesamtanmutung irgendwie auch verständlich.

Ralf Siepmann







Fotos: Ramella & Giannese