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Fakten zur Aufführung 

CARMEN
(George Bizet)
14. September 2014
(Premiere)

Theater Trier


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Im Fußballfieber

Carmen, die schwarzhaarige, exotische Schönheit, mit rotem Tangokleid und verführerischem Augenaufschlag hinter spanischem Fächer – das werden auch die meisten Besucher des Theaters Trier zur Spielzeit-Auftakt-Premiere Carmen erwartet haben. Doch die Parade-Carmen, die da auf langen, makellosen Beinen auf die Bühne schwebt, entpuppt sich Conchita-Wurst-Verschnitt. Die wahre Carmen springt aus dem Kostüm des Maskottchens eines Fußballvereins. Blond, schlank, jung, eine kokette Kindfrau. Kein wallender Tangorock, sondern kecke Hotpants. Kein Vamp, sondern eine Lolita. Keine Stierkampfarena, sondern ein Fußballstadion.

Jung-Regisseur Sebastian Welker verfolgt eine tollkühne Idee: die gute, alte Carmen in ein neueres Gewand zu stecken. Statt beim Stierkampf leben die Toreros ihr Testosteron beim Torjagen aus, statt der Zigeunerdamen gehört Carmen zu den Zigarettenmädchen aus der Fabrik neben dem Fußballplatz. „Amando“ heißt die Fabrik, die gleichzeitig der Hauptsponsor des Fußballvereins ist. Don José ist im selben Atemzug kein Soldat, sondern ein gescheiterter Fußball-Nachwuchsstar, der sich nun als Security-Aufsicht neben dem Feld verdingt. Welker versetzt den Stoff in moderne Gefilde und macht dabei aus seiner Carmen keine Femme Fatale, sondern eine freiheitsliebende Kindfrau. Passend dazu das Bühnenbild als Tribüne von Julia Przedmojska, die Kostüme gestaltet Claudia Caséra schlicht mit Jeans und Fan- oder Arbeits-Shirt. Faszinierend, wie gut das auf der Bühne zusammenpasst. Man kann den langgezogenen Torjubel im Torero schon hören, bevor er überhaupt angesungen wurde. Dabei nimmt Welker diese Fußballgemeinde durchaus ernst und macht sie nicht zu hoffnungslosen Fußballverrückten. Seine Carmen ist „frei wie die Luft“, lässt sich nicht fremdbestimmen und steht damit in einer Reihe mit den anderen Damen aus der Zigarettenfabrik. Allerdings wird der bittere Beigeschmack schnell auf dem Silbertablett serviert. Die Damen müssen mal einen „Gefallen tun“, den Schiedsrichter bezirzen, damit der das Spiel wie gewünscht pfeift. Carmens Begegnung mit dem Kastagnetten-Mann birgt ein düsteres Geheimnis, das den Fortlauf des Stückes bestimmt. Seine Carmen ist freiheitsliebend, weil sie es sein muss, weil sie keine ernsten Gefühle an sich heranlassen kann. Ist eine Kindfrau geblieben, weil sie als Kind zur Frau gemacht wurde. Carmen soll in Welkers Inszenierung eine Ode an die Selbstbestimmtheit der Frau werden, diese Idee hätte allerdings auch ohne den angedeuteten sexuellen Missbrauch funktioniert.

Schön zu sehen, wie sehr sich die Solisten und der Chor in die Inszenierung hängen. Allen voran Mezzosopranistin Kristina Stanek, die die Kindfrau Carmen mit, für ihr zartes Äußeres und ihr junges Alter, unglaublicher Energie singt. Ihr kraftvoller, ausdrucksstarker und trotzdem erfrischend junger und variabler Mezzosopran beschert ihr den wohlverdienten, langanhaltenden Applaus genauso wie ihre gelungene Darbietung. Neben der detailreichen, ausgeklügelten Inszenierung von Stanek bleiben die Motivationen ihres Gegenparts José, Carlos Aquirre, fast zurück. Mit einem Mutterkomplex behaftet, wird schnell klar, warum er sich eher zu der freigeistigen Carmen als zu der beherrschten Michaela hingezogen fühlt. Woher jedoch seine Besessenheit rührt, sie unbedingt mit Haut und Haaren nur für sich haben zu wollen, bleibt zu kurz. Enorm energetisch dafür seine brutale Entwicklung, die schließlich im letzten Gewaltakt gegenüber Carmen gipfelt. Kein Messer verhilft José zur Genugtuung, mit bloßen Händen erschlägt er Carmen auf der Bühne, um danach triumphierend seine Tat zusammen zu fassen. Stimmlich brilliert Aquirre, sein Tenor ist voluminös und facettenreich, von schöner Klangfarbe und Reinheit. Dabei zieht er seinen Tenor äquivalent zur Inszenierung kraftvoll und energisch, bis sogar gewaltig durch. Amadeu Tasca als Escamillo kann da mit seinem formschönen Bariton auch die leiseren Töne pflegen, während Evelyn Czesla als Frasquita in ihrer Rolle als überforderter Mutter ihr schauspielerisches Können ausleben kann. Joana Caspar gibt eine mutterhafte Michaela mit beweglichem Sopran.

Der Chor unter der Leitung von Angela Händel hat hier ein ordentliches Paket zu stemmen, da wird auf Tribünen gehüpft und gejubelt, geraucht und gerauft und wie nebenher gesungen. Großes Lob für die Mühen des Chores.

Das Orchester unter der Leitung von GMD Victor Puhl schafft eine solide, überzeugende Basis, muss aber in den dramatischen Momenten vorangetrieben werden, bevor es zu voller Form aufläuft.

Das Publikum ist zwiegespalten, Bravo und Buh-Rufe teilen sich den Raum. Kritisiert werden oft die Änderungen im Text sowie die etwas gestelzt klingenden Sprechzeilen. Gelobt werden die neue Herangehensweise und der Mut. Von großer Enttäuschung bis großer Anerkennung ist alles dabei. Nur kein Mittelmaß.

Eine erfrischende Carmen, stringent und erstaunlich passend inszeniert mit überragenden Solisten, gutem Orchester und überzeugendem Chor, als Manko bleibt die fehlende motivationale Inszenierung von José zu nennen und die Frage, ob der Missbrauch Carmen nicht zur Gefangenen ihrer eigenen Freiheit macht, statt zu einem Symbol für sexuelle Selbstbestimmtheit.

Stefanie Braun

 

Fotos: Marco Piecuch