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Fakten zur Aufführung 

JAKOB LENZ
(Wolfgang Rihm)
21. November 2014
(Premiere am 25. Oktober 2014)

Staatsoper Stuttgart


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Zwischen Genie und Wahnsinn

Jakob Michael Reinhold Lenz war ein schwieriger Zeitgenosse. Geboren 1751 in Livland, dem heutigen Estland, in einer bigotten strengen Pfarrersfamilie, brach er sein Theologiestudium ab und widmete sich der Philosophie und der Poesie. Als Hofmeister einer reichen livländischen Familie kam er ins Elsass, wo er Goethe kennenlernte und mit ihm Freundschaft schloss. Diese historische Freundschaft endete abrupt und heftig mit Lenz‘ Ausweisung aus Weimar. In Deutschland galt er danach als verschollen oder tot. Gestorben ist er aber auf der Straße erst 1792 in Moskau. Es wurde und wird viel über die Bedeutung Jakob Lenz für Philosophie und Literatur und über seine Krankhiet oder geistige Verfassung diskutiert. Unvergänglichen Ruhm erhielt er durch die Novelle Lenz von Georg Büchner. Der Schriftsteller kam mit der Lebensgeschichte Jakob Lenz' über die Familie seiner Verlobten während seiner Zeit als Medizinstudent in Berührung. Diese war ebenfalls eine Pfarrerstochter, deren Familie mit einer Familie Oberlin im Elsass eng befreundet war. Bei dieser Familie Oberlin verbrachte Jakob Lenz drei Wochen zu Beginn des Jahres 1778. Der aufgeklärte Pfarrer Oberlin galt als fortschrittlicher, sozial aktiver Pfarrer und sollte Jakob Lenz von seiner vermeintlichen Geisteskrankheit heilen. Der Aufenthalt geriet zum Desaster, und Jakob Lenz wurde danach in einer Anstalt interniert.

Dieser Aufenthalt bei der Familie Oberlin ist Gegenstand der 1977 geschaffenen Oper Wolfgang Rihms. Er schuf ein einstündiges Werk extremer Kammermusik, wie er es selbst beschreibt. Dreizehn Bilder zeigen fragmentarisch in filmischer Sequenz traumatische Begebenheiten während des Aufenthalts bei der Familie Oberlin. Geschaffen für drei Sänger, sechs Vokalstimmen und elf Instrumente, ergibt sich ein dichtes, beklemmend berührendes, packendes Dokument dieser historischen Krankheitsgeschichte. Die Schizophrenie spiegelt sich in einer subtilen Komposition wider. Es dominiert ein monotones langgezogenes Klanggebilde. Melodiezitate einer barocken Sarabande, Schubertscher Ländler oder von Chorälen sind erkennbar im Geflecht surrealer Dissonanzen, das am Ende im Schrei der entsetzlichen Stille im Pianissimo endet.

Die Oper Stuttgart bringt diese erfolgreichste zeitgenössische Oper nun auf die Bühne des großen Hauses. Andrea Breth führt Regie. Sie arbeitet detailgenau, nüchtern realistisch. Martin Zehetgruber schafft dazu dreizehn genial sterile, surreale Bühnenbilder, die stummfilmartig mit technischer Perfektion der Bühnenarbeiter geräuschlos aneinandergereiht werden und so zu einer harmonischen Einheit verschmelzen. Vollendet wird diese Geschichte durch die grandiose Leistung des Österreichers Georg Nigl. Gebucht auf diffizile Charakterrollen, haucht er der Gestalt des Jakob Lenz auf der Bühne die richtige Mischung aus verkanntem Genie, revoltierendem Außenseiter und erbärmlichen Wahnsinnigen ein. Begleitet wird er von Henry Waddington als Oberlin und John Graham Hall als seinem Freund und Gönner Kaufmann. Das Publikum wird vom ersten Augenblick von der Tragik und Ausweglosigkeit der Geschichte gepackt und folgt Georg Nigl hoffnungsvoll gespannt. „Konsequent“ haucht dieser zermürbt als Letztes in die entsetzliche Stille, konsequent ist der langanhaltende heftige Beifall für diese gelungene, eindrucksvolle, ausdruckstarke Inszenierung und gestalterischen Leistung von Sänger und Instrumentalisten unter der Leitung von Franck Ollu. Dieser Abend wird allen Anwesenden sicherlich noch lange im Gedächtnis bleiben.

Helmut Pitsch



Fotos: Bernd Uhlig