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Fakten zur Aufführung 

IPHIGENIE EN AULIDE
(Christoph Willibald Gluck)
30. Juli 2014
(Premiere am 1. November 2012)

Staatsoper Stuttgart


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In der Spirale von Krieg und Verwüstung

Blankes Entsetzen löst sie aus, diese Guillotine im Zentrum der riesigen Maschinenhalle, in der sich das Heer der Griechen für seinen Feldzug nach Troja rüstet. Gerade erst haben die Schergen des Henkers mit quälender Langsamkeit das Gerüst der Todesmaschine aufgestellt und das Fallbeil mit Seilzug und Winde in die Höhe bugsiert. Iphigenie hat ihren Kopf in die Position gebracht, die zur Vollstreckung verlangt wird. Ihr Blick ist zum Boden gerichtet – ein krasses Bild der Unterwerfung und Hingabe, die die zum größten Opfer entschlossene Tochter des Heerführers Agamemnon aufzubringen bereit ist. Tod oder Leben, Entrinnen oder Untergang? Das Fallbeil rauscht nicht herunter, weil die Götter der Griechen die Geste der Iphigenie zu belohnen belieben. Das Geschehen zu Aulis wendet sich in letzter Sekunde scheinbar gütlich. Doch wie so oft auch im wahren Leben täuscht der Anschein über die Wirklichkeit hinweg. Die antike Reisegesellschaft, die schon zu Beginn die Szenerie im Stuttgart Opernhaus mit allerlei Rollkoffern bevölkert hat, wird sich aufmachen in das nächste Gemetzel. Die Spirale von Krieg und Verwüstung, vom Vernichten der Körper und vom Zerstören der Seelen wird sich weiterdrehen, wie vor Jahrtausenden, vor einem Jahrhundert, wie heute in den Regionalkonflikten in Osteuropa, Nahost oder Zentralasien.

2014 ist ein Gluck-Jahr. Allerdings halten sich Aufführungen, Projekte und andere spezielle Veranstaltungen anlässlich der dreihundertsten Wiederkehr seines Geburtstages an den Musiktheatern in Deutschland und Österreich in überschaubaren Grenzen. Der Förstersohn mit fränkischen Wurzeln avanciert zwar zum Reformer der Kunstform Oper und vor Salieri, Mozart und Rossini zum Star der Musikszene erst in Wien und dann in Paris. Von seinen annähernd 50 Werken für das Musiktheater, die jeweiligen Zweitfassungen und Versionen in anderen Sprachen miterfasst, haben sich indes gerade einmal eine Handvoll in den Spielplänen dauerhaft etablieren können. So gesehen, bilden Nürnberg mit seinen Internationalen Gluck-Festspielen und Stuttgart jetzt mit einem ausgiebigen Gluck-Wochenende schon rühmliche Ausnahmen. Das Konzept der Staatsoper bündelt über drei Tage Opernvorstellungen, Konzerte und Vorträge. Mit der Aufführung von Iphigénie en Aulide am letzten Spieltag der Saison setzt die Intendanz zudem ein beachtliches und erfreuliches Ausrufezeichen.

Andrea Moses, die Regisseurin, und Christian Wiehle, verantwortlich für Bühne und Kostüme, haben die Inszenierung des Atriden-Dramas als eminent politischen Stoff angelegt. Die Idee der Freiheit des Menschen ist hier weder Programm noch Plan. So zieht Agamemnon zu Beginn noch vermeintlich souverän Züge auf einem Schachbrett. Doch wird er die Partie nicht zu Ende spielen, geschweige gewinnen können. Die Figuren liegen dann auch alsbald zerstreut auf dem Boden. Der Heerführer erkennt sein Geschick, selbst nur eine Variable im Spiel von Mächtigeren zu sein. Kalchas, der Priester und Sprecher der wahren Macht, fordert den Primat der raison d‘état vor dem Privaten ein. Und die kriegslüsterne Gesellschaft, interpretiert durch den intensiv agierenden Staatsopernchor Stuttgart, treibt die hellenische Elite förmlich in die nächste Schlacht, wie von einer effektiven PR-Maschinerie gesteuert: „Unser Zorn ist gerechtfertigt.“

Das robuste Inszenierungskonzept entwickelt jetzt, stärker als im Premierenjahr 2012, eine gespenstische Aktualität. Der Nationalismus der Atriden, leidlich getarnt als Vaterlandsliebe, führt 1914, vor 100 Jahren einen ganzen Kontinent in das Verderben. Als Chauvinismus von gestern lebt er nur allzu greifbar in der Militanz der Streiter für die „Volksrepubliken Donezk und Luhansk“ fort. Zugleich häufen sich über den Toten des ersten Weltkriegs heute die Reden von Staatspräsidenten, in denen vor einer Wiederholung des Gemetzels unter den Völkern gewarnt wird. Dass aus der Geschichte zu lernen sei, lautet das Mantra. Doch die Lernfähigkeit des Menschen muss ja wohl erst gegen die systematische Kriegstreiberei behauptet werden. Die Stuttgarter Iphigénie en Aulide führt die Zerbrechlichkeit der menschlichen Gesellschaft plastisch vor. Die Kunst, hier die der Oper, hat in ihren großen Momenten immer wieder die Chance, für die Fragilität der conditio humana Bewusstsein zu schaffen. Wer würde ausgerechnet in Gluck und seinem französischen Librettisten Leblanc du Roullet einen Kronzeugen für das Potenzial vermuten, an diese zu glauben und auf sie zu setzen? Was Moses und Wiehle auf die Bühne gebracht haben, ist solch ein Moment.

Für die Szenen in Aulis verwendet Gluck weder Harfe noch Posaune, Tuba oder Schlagwerk. Mit gerade einmal 37 Musikern kommt der Orchesterapparat aus. Eine furchterregend von Harald Löhle geschlagene Pauke reicht völlig, den Fanatismus der Griechen zu beschreiben. Nicholas Kok, in Stuttgart auch als Dirigent bei Orpheus und Eurydike präsent, generiert mit dem Staatsorchester Stuttgart einen durchgehend einfühlsam inspirierten Sound, Pastelltöne in den lyrischen und forderndes Forte in den martialischen Passagen. Insgesamt hohe Gluck-Kompetenz. Der Staatsopernchor, einstudiert von Christoph Heil, singt nicht nur, sondern spielt auch mit Verve. Das Ereignis des Abends – übrigens auch in der Wahrnehmung des Publikums – ist Marina Prudenskaja als Klytämnestra, eine Rolle, die sie zuletzt auch bei der konzertanten Aufführung der Oper in Nürnberg gestaltet hat. Der Part der Mutter der Iphigenie ist mit seinem eigentümlichen Wechsel von rezitativischem Parlando und melodischer Deklamation eine spezielle Herausforderung für jeden Mezzosopran. Die Prudenskaja, in ihren sechs Jahren als Stuttgarter Ensemblemitglied zu einer Sängerin mit superben Perspektiven gereift, meistert die Ausbrüche an Verzweiflung und Aufbegehren im großen Stil und mit großen Gesten. Die können dabei auch durchaus von höchster Innigkeit und Einfühlsamkeit geprägt sein, wie ihre von einer Solo-Oboe umspielte Klage nach der Offenbarung des Opferschauders illustriert: Von einem grausamen Vater zum Tode verurteilt…

Mandy Fredrich singt und spielt die weniger expressiv-dramatisch angelegte Figur der Iphigenie, ihren gleichwohl diffizilen Wandel von der jungen, fast noch naiven Königstochter zur selbstbewussten Frau, die letztlich Größe im Verzicht beweist, eindrucksvoll und mit großer Steigerungsfähigkeit. Gergely Németi als Achill hinterlässt mit seinem famosen Tenor einen nachhaltigeren Eindruck als Andrew Schroeder in der Rolle des Agamemnon. Der Kalchas des Ronan Collett ist dem alle Stadien der Verzweiflung durchlaufenden König ein durchaus ebenbürtiger Gegenspieler. Kai Preußker als Arkas und Ashley David Prewett als Patroklos runden den starken Gesamteindruck erfreulich ab. Eben dem zollt auch das Publikum seinen Beifall. Die Reihen sind am letzten Opernabend der Saison zwar schon gelichtet, der empathischen Zustimmung aus dem Parkett tut das allerdings keinen Abbruch.

Die Stuttgarter Oper steht bekanntlich vor einer einschneidenden Sanierung, deren Kosten und Zeiträume noch nicht genau ermittelt sind. Das sollte die Intendanz allerdings nicht an kühnen Plänen hindern, beispielsweise die Integration von weiteren Gluck-Opern in Spielpläne der kommenden Jahre. Dafür böte sich nicht allein die Quasi-Fortsetzung Iphigénie en Tauride an, mit der Gluck seine Reformprogrammatik letztlich besiegelte. Auch im übrigen stattlichen Werk wäre die eine oder andere Trouvaille zu erwarten. La clemenza di Tito, kürzlich in Leverkusen gegeben, wäre so eine Option.

Ralf Siepmann



Fotos: A. T. Schaefer