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Fakten zur Aufführung 

CHICAGO - DAS MUSICAL
(John Kander, Fred Ebb)
8. Februar 2015
(Premiere am 6. November 2014)

Stage-Palladium-Theater Stuttgart


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Bitterböse Groteske aufs Showbusiness

Taschentücher können Musicalbesucher im Stage-Palladium-Theater in Stuttgart derzeit getrost daheim lassen. Denn im Broadway-Erfolg Chicago aus der Feder von John Kander und Fred Ebb geht es weder um Liebe noch um Herzschmerz. Und das ist fast schon wieder Freudentränen wert. Emotionen weichen in Möhringen bitterbösem Zynismus und einem Broadway-Musical in Reinform. Das Publikum taucht ein ins Chicago der 1920-er Jahre – und in eine Welt, in der es nicht um Moral und Gerechtigkeit geht, sondern allein ums Showbusiness. Der Knast wird zur großen Glitzerbühne. Das Publikum erlebt eine herrlich überzeichnete Groteske über Mord, Lügen und Eifersucht, Glanz, Schein und Manipulation. Und nicht zu vergessen: heiße Songs, herrlich mitreißende Tanzszenen und viel Sexappeal.

Das Stuttgarter Ensemble zeigt dabei die Broadway-Originalinszenierung des amerikanischen Regisseurs und Choreographen Bob Fosse. Er erzählt die Geschichte der Nachtclubsängerin Roxie Hart wie eine große Show aus Glitzer, riesigen Federfächern und knappen Kostümchen. Und er schafft es, sehr aktuelle Gesellschaftskritik, Satire und Hintersinn in ein unterhaltsames, bitterbös-lustiges, jazziges 20-er-Jahre-Gewand zu packen. Die Geschichte: Roxie erschießt ihren Liebhaber und landet im Knast. Hier lernt die Nachtclubsängerin die durchtriebene Mama Morton und Tänzerin Velma Kelly kennen – Zickenkrieg ist vorprogrammiert. Mit dem schmierigen Staranwalt Billy Flynn schafft es Roxy hinter Gittern zum Medienstar – kommt, wie es im Song herrlich zynisch heißt, ganz groß raus mit einem Knall. Natürlich folgt der Freispruch für die „Jazz-Mörderin“. Glücklich ist Roxy trotzdem nicht, denn im Blitzlichtgewitter steht längst der nächste Skandalstar. Das 14-köpfige Orchester sitzt – ungewohnt für ein Musical – mitten auf der Bühne. Platz für ein Bühnenbild bleibt damit nicht, aber wozu auch? Das Publikum darf stattdessen viel nackte Ensemble-Haut, lange Beine in Nylon, sich räkelnde Frauenkörper und männliche Waschbrettbäuche bestaunen. Sieht man mal von den Skandalen ab, geht`s im Showbusiness schließlich um nichts anderes. Und so braucht es auch keine knallbunten Glitzerkostüme, viel Haut und Erotik genügen. Auf heiße Tanzszenen folgen Slapstickeinlagen, die die Absurditäten der Star- und Sternchen-Welt erst recht rauszeichnen. Zum Beispiel macht Philipp Hägeli als Anwalt Billy Flynn Roxy vor der Presse zu seiner Handpuppe und lässt sie pantomimisch „erzählen“, was er für clever hält.

Tatsächlich gelingt Ellen Wawrzyniak in der Rolle der Roxy die groteske Überzeichnung bei der Musicalmatinée am besten – sie flirtet und säuselt in einem Moment, wackelt mit Po und Brüsten, während sie im nächsten Augenblick vor Sarkasmus trieft. Wawrzyniak beherrscht die Rolle des süßen Mädchens ebenso wie die der Bühnendiva. Ebenso variantenreich ihr Gesang – mal haucht sie, mal singt sie lupenrein, dann wieder röhrt sie rauchige Jazzklänge. In die Rolle ihrer Knast-Konkurrentin Velma Kelly schlüpft Lana Gordon – gesanglich und tänzerisch hält sie allemal mit, allerdings ist das Deutsch der US-Amerikanerin zum Teil schlecht zu verstehen. Stimmliche Abgebrühtheit, wie sie in der Rolle der Mama Morton sein soll, bringt Isabel Dörfler mit. Die koloraturhaften Überzeichnungen von Victor Peterssen indes tun in den Ohren fast schon weh – und sollen es, denn genauso überdreht ist Klatschreporterin Mary Sunshine nun mal. Der Schweizer Philipp Hägeli als Zweitbesetzung des Billy Flynn singt gut, doch fehlt das Fiese in der Stimme. Man wünschte ihn sich noch schmieriger, noch aalglatter, noch unsympathischer. Der zweite Mann im Bühnenbunde indes schlüpft perfekt in seine Rolle. Die Rede ist von Volker Metzger als braver, treuer „Schussel-Dussel“ – Ehemann Amos Hart. Ein nettes gesangliches Glanzstück bei der Matinee: sein Mr. Zellophan.

Das insgesamt zwölfköpfige Herren- und Damenensemble lässt kaum Platz für Kritik – nicht in Sachen Gesang und erst recht nicht in Sachen Tanz. Beine fliegen, Hüften kreisen, Finger schnippen, Füße stampfen. Die unglaublich heiß choreographierten Tanzszenen haben nicht umsonst inzwischen als Fosse Style in die Tanzgeschichte Einzug gehalten und gelten als nicht mehr wegzudenkendes Element des Genres Musical.

Das Orchester unter dem Dirigat von Klaus Wilhelm findet bei Chicago erfrischend viel Beachtung. Immer wieder ist der Maestro selbst Teil der Handlung, kommentiert, wird vom Ensemble zum Einsatz aufgefordert. Wilhelm und sein Orchester des Stage-Palladium-Theaters haben daran sichtlich Spaß – und vor allem an den mitreißenden Jazz-Melodien des Musicals Chicago. Die Musiker beherrschen die dezente Begleitung ebenso wie den energiesprühenden Big-Band-Sound mit großartig schnarrenden Blechbläsern.

Das Publikum applaudiert am Ende begeistert, noch intensiver allerdings fällt schon vorher mancher Zwischenapplaus aus. Chicago mag ein gewisses Risiko bergen, weil mancher Besucher den Standard-Herzschmerz etlicher anderer Musical-Produktionen vermissen mag. Aber genau hier liegt das Erfolgsrezept.

Michaela Schneider



Fotos: Stage Entertainment