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Fakten zur Aufführung 

IPHIGÈNIE EN TAURIDE
(Christoph Willibald Gluck)
22. Mai 2015
(Premiere)

Salzburger Pfingsfestspiele,
Haus für Mozart


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Eingeschlossen vom unabwendbaren Schicksal

Cecilia Bartoli ist immer für Überraschungen gut. Denn ihre Neugier scheint unstillbar zu sein. Nach Händels Giulio Cesare im ersten Jahr ihrer Übernahme der Künstlerischen Leitung der Salzburger Pfingstfestspiele folgten in den folgenden Jahren Rossinis La Cenerentola und schließlich Bellinis Norma, bei denen sie auch jedes Mal die Titelrolle übernahm. Dafür wird sie vom Publikum geliebt, die Festspiele sind ein Publikumsmagnet.

Auch heuer, im vierten Jahr, ist wieder mit außergewöhnlichen Erfahrungen zu rechnen: So ruf ich alle Götter – Mit diesem diesjährigen Motto taucht sie in die antike Welt der Götter ein. Gleich beginnend mit der Reformoper Iphigénie en Tauride von Christoph Willibald Gluck.  

Unheimlich stark ist die Geschichte der Iphigenie des Euripides, an der sich Johann Wolfgang von Goethe mit seinem Klassiker orientierte und die Grundlage der 1779 in Paris uraufgeführten Oper ist. Blutrünstig ist es, wenn Vater Agamemnon seine Tochter Iphigenie den Göttern opfern will; sie kann gerettet werden, dient auf einer fernen Insel der Göttin Diana als Priesterin. Agamemnon wird von seiner Frau Klytämnestra ermordet, diese wird vom Sohn Orest erstochen. Ein Fluch trägt Schuld daran. Wo heutzutage der Mensch aktiv mit Hilfe von  Psychotherapien und Psychoanalysen Traumata aufspüren und aufarbeiten kann, machte man  früher das unabwendbare Schicksal, die Götter, für alles verantwortlich.

Die Geschichte startet auf der fernen, griechischen Insel Tauris, wo Iphigénie seit 15 Jahren alle Neuankömmlinge für den Skythenkönig Thoas den Göttern opfern muss. Erst als ihr totgeglaubter Bruder Orest mit seinem Freund Pylade als Schiffbrüchiger erscheinen, werden nach der Erkennungsszene und knapp vor der Hinrichtung der Fluch und das Morden durchbrochen, und es gibt doch tatsächlich ein Happy End.

Das alles setzte Gluck in Musik um, in eine Musik, von der Friedrich Schiller schwärmte, wie „schön und rein“ sie sei, und wie die himmlische Musik ihn selbst zu Tränen gerührt habe. Und sie steht daher im krassen Gegensatz zum Libretto.

Völlig nackt wie eine schutzlose Kreatur kniet Orest auf einer weißen Plastikplane und erwartet den Tod. Iphigénie nimmt nach langem Zögern und Ringen das Messer, das zuvor wie bei einem Ritual von allen, auch großartig singenden zehn Priesterinnen abgewischt wird, und setzt es von hinten an seine Kehle. Orests gut gebauter Körper beginnt zu zucken. Sie zögert noch immer, ganze Muskelpartien beginnen bei ihm zu zittern. Durch eine Äußerung von ihm erkennen sich die beiden Geschwister, und sie lässt das Messer fallen: Eine ungemein starke und packende Szene, die das von Bartoli meist engagierte Regie-Duo Moshe Leiser und Patrice Caurier hier vorführt und das Publikum völlig in ihren Bann zieht. Bei ihrer jüngsten Regiearbeit im Haus für Mozart können sich die traumatisierten Geschwister ohne Mord und Totschlag willentlich aus der albtraumhaften Psycho-Endlosschleife lösen, das Schicksal scheint besiegt.

Man sieht kein arkadisches Idyll, kein natürliches Licht, sondern nur kaltes Neon. Denn der Ort selber ist trist und hässlich. Er besteht aus grauen Wänden und einer verrosteten Eisenwand und wirkt mit Stahlrohrbetten und alten, herumliegenden Kleidern wie ein Betonbunker. Wie in einem Gefängnis oder einem Flüchtlingslager sind sie alle hier seit Jahren eingeschlossen. Für dieses schreckliche Leben hat Bühnenbildner Christian Fenouillat diesen hässlich abstoßenden Einheitsraum geschaffen, der sich erst nach dem rettenden Erscheinen der Göttin Diana, der Dea ex machina, hinten öffnet und die hoch hinauf spritzende Brandung des erfrischenden Meeres freigibt. Mit diesem zeitlosen Drama einer Opfer- und Leidensgeschichte gelingt den Regisseuren, nach einem eher zäheren, statischen ersten Teil ein durchaus zwingendes, schlüssiges Konzept im zweiten Teil mit perfekter Personenführung zu präsentieren.  Es gelingt ihnen auch, die Gedanken, die Träume und die innere Zerrissenheit der Protagonisten sichtbar zu machen.

Dass Leiser und Caurier sich dabei auch auf großartige Singschauspieler verlassen können, ist ein weiterer Pluspunkt. Allen voran ist Christopher Maltman ein auch schauspielerisch überragender, brillanter Oreste, der seine existenzielle Eindringlichkeit phänomenal kraftvoll und mit vielen Fassetten darstellt. Cecilia Bartoli ist eine intensive, glaubhafte und beeindruckende Iphigénie mit herrlichen Phrasierungen, unglaublichen Nuancen und kaum hörbaren Piani. Topi Lethipuu ist ein leidenschaftlicher Pylade. Rebeca Olvera ist eine völlig mit Gold überzogene, schönstimmige Göttin Diana. Einzig Michael Kraus als König Thoas kann in diesem exquisiten Ensemble nicht hundertprozentig überzeugen. Er wirkt insgesamt zu derb und unkultiviert. Sängerisch ausgezeichnet und auch darstellerisch versiert erlebt man den Coro della Radiotelevisione Svizzera in der Einstudierung von Gianluca Capuano.  

Am Pult von I Barocchisti steht ihr Chef Diego Fasolis, der  Glucks Musik manchmal zu verhalten musizieren lässt, was vielleicht daran liegt, dass der Großteil des Grabens und somit das Ensemble von der weit nach vorn gezogenen Bühne verdeckt ist. Trotzdem verhilft er ihm zu etwas trockenen Schönklang und zu straffen Tempi.
Nach dem Finale kommt es zu grenzenlosem Jubel und stehenden Ovationen, in die sich beim Erscheinen des Regieduos doch einige Buhs mischen.

Das Thema der Pfingstfestspiele des kommenden Jahres wird Romeo und Julia sein: Erleben kann man Bernsteins West Side Story mit Bartoli in der Titelpartie und Norman Reinhardt als Tony. Es spielen das Simón Bolívar Symphony Orchester unter Gustavo Dudamel. Die konzertante Oper wird die Rarität Giulietta e Romeo von Nicola Antonio Zingarelli sein. 

Helmut Christian Mayer

 



Fotos: Monika Rittershaus