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Fakten zur Aufführung 

CLOSE DISTANCE
(Helen Parlor)
30. Mai 2014
(Premiere)

Ruhrfestspiele, Fringe-Zelt


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Der unterschätzte Fußabtreter

Fringe ist schräg, anders, innovativ, vielfältig. Was Fringe genau ist, scheint niemand genau zu wissen. Also kann man den Begriff mit all dem füllen, was man nicht einordnen kann. Bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen wird eigens ein Fringe-Zelt aufgestellt – so eine Art Quarantäne für ungewöhnliche, oft spartenübergreifende Aufführungen, weitab vom Schuss und vom Haupteingang des Festspielhauses nicht sichtbar. Da stört es nicht. Dabei will Fringe stören, verstören. Und die Ruhrfestspiele brauchen sich mit ihrem Fringe-Programm nicht zu verstecken. Wer also das Andere abseits vom Mainstream sucht, auf einem Festival Neues entdecken will, sollte sich mit diesem Teil des Festival-Programms intensiv befassen. Leicht wird es einem nicht gemacht. Oder die Gruppe Parlor Dance ist bei der Festivalleitung in Ungnade gefallen. Jedenfalls ist das Stück Close Distance auf der Website der Ruhrfestspiele nicht so ohne Weiteres zu finden. Kein Wunder also, dass das unterkühlte Zelt nur knapp zur Hälfte gefüllt ist. Die Videoprojektionen der Originalfassung entfallen kurzerhand. Das stimmt nachdenklich. Ebenso wie die miserable Fotokopie in englischer Sprache, die als Programmheft dient, und das Werbeblättchen, das auf die Tour-Daten aufmerksam macht. Wie soll sich der Zuschauer für ein Programm begeistern, das die Macher so lieblos präsentieren?

Da ist umso erfrischender, dass das Publikum schon vor dem Eingang von einer euphorischen Sioda Martin begrüßt wird. Sie ist eine der vier Tänzer, die den Zuschauern in den nächsten 75 Minuten erklären werden, was es mit der „nahen Distanz“ auf sich hat. Und sie ist diejenige, die das Cocooning liebt, den Rückzug ins eigene Reich. In der eigenen Wohnung darf gefeiert werden, was das Zeug hält, und kontaktfreudig ist sie sowieso. Chris Bradley gefällt ihr. Er ist derjenige, der die Karriere über alles stellt und ob seiner Fantasielosigkeit auf strenge Regeln der Hausgemeinschaft Wert legt, in der die Tänzer zusammen finden. Und deshalb wird Bradley fast wahnsinnig, weil Martin sich diesen Regeln so gar nicht fügt. Michael Spenceley stellt den Außenseiter dar, der an Tom Waits mit seiner legendären Cementary Polka erinnert. Das liebe Mädchen, das doch einfach nur eine konventionelle Beziehung sucht, bleibt in der Präsenz von Rebecca Thomas blass.

Helen Parlor hat das Stück choreografiert, das Nathaniel Reed komponiert und geschrieben hat. Ein Stück, das sich des ernsten Themas häuslicher Nachbarschaft widmet. Diesem ewigen Mysterium richtiger Nähe und Distanz. Reed bedient sich, wie will man anders damit umgehen, ausgiebig der Ironie. Die Musik eher durchschnittlich, lässt er die Tänzer viel reden, was für das deutsche Publikum bei interessanten Dialekten mitunter zur Zumutung wird. Ein bitterböses Pasticcio über die lieben Nachbarn wird da abgeliefert. In ihren Stereotypien bleiben die vier Nachbarn verhaftet, kommen auf keine gemeinsame Basis, obwohl die Beschwörungen guter Gemeinschaft sich durch das Werk ziehen – und immer wieder scheitern.

Der Fußabtreter, der sich als Matte vor jeder gutsituierten Wohnung dieser Welt findet, ist im zeitgenössischen Tanz bis zur Entwicklung von Close Distance vollkommen unterschätzt worden. Parlor endlich würdigt ihn als das, was er ist: Symbol für die Unverletzlichkeit des eigenen Reichs, der eigenen Wohnung. Vier Fußmatten also gibt es auf der Bühne, die jeweils von einem Lichtfeld umgeben werden. Das entströmt jeweils einer Deckenleuchte im Stil der 1970-er Jahre. Der Fußabtreter wird mal als Pelzkragen getragen, mal als Tanzelement eingebaut oder zur Abgrenzung der eigenen vier Wände benutzt. Die Choreografie schwankt zwischen erzählter Geschichte und überraschenden Hebungen und Begegnungen, ohne allerdings den letzten Zauber zu entfalten, der aus einer Tanzgestaltung ein unvergessliches Werk schafft.

In Erinnerung bleiben wird allerdings Sioda Martin, die mit ihrer für Tänzerinnen ungewöhnlichen Figur und einer schier unerschöpflich sprühenden Lebensfreude das Tanzkonstrukt zusammenhält, nach vorne treibt und trotz zu zahlreicher Wiederholungen begeistert.

Das Publikum applaudiert kurz, aber enthusiastisch, um endlich wieder in wärmere Gefilde zu entfliehen. In den letzten Sonnenstrahlen vor dem Zelt werden die intensiven Eindrücke dieses Abends dann noch ausführlicher diskutiert. Auf gute Nachbarschaft!

Michael S. Zerban

Fotos: Legge