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Fakten zur Aufführung 

CARMEN
(Georges Bizet)
8. Juli 2015
(Premiere)

Choregies d'Orange


Points of Honor                      

Musik

Gesang

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Ass im Ärmel

Mächtig steht das wohl besterhaltene römische Theater mitten in der sonst eher gemütlichen Kleinstadt Orange als Zeuge einer großen Vergangenheit. Hier hat die erste Schlacht der Römer mit den Kelten, den Zimbern und Teutonen stattgefunden. Danach entstand eine blühende Kolonie und Handelsstadt. Aber auch das deutsch-holländische Erbe der Stadt aus dem 13. Jahrhundert ist bedeutend bis hin zur Namensgebung des Fürstengeschlechts Nassau-Orange, die Oranier. Einmal jährlich wird die Stadt mit dem international anerkannten Festival, der Choregies, wieder ein kulturelles Zentrum mit der Kulisse des prächtigen Theaters, das bis zu 8500 Zuschauer fasst. Im Verlauf eines Monats werden zwei Opernaufführungen und verschiedene Konzerte mit Starbesetzung aufgeboten. Ein Opernabend mit Joseph Calleja und Ekaterina Siurina bildet den Start in diesem Jahr und präsentierte einen Querschnitt beliebter Arien, Duette und orchestralen Werken aus dem Schaffen italienischer Komponisten und Charles Gounod. Die beiden Solisten harmonierten auf der Bühne, Joseph Calleja wirkte in der Höhe belegt und unsicher, Ekaterina Siurina zeigte sich nervös und fühlte sich bei manchen Auftritten nur mit Noten sicher. Schwungvoll wurden Sie vom Orchestre National de Lyon unter der Leitung von Enrique Mazzola begleitet. 

Am folgenden Abend erfolgt dann die große Eröffnung vor dem ausverkauften Theater mit einer Neuinszenierung der allseits beliebten und für Freiluftspektakel besonders geeigneten Oper Carmen von Georges Bizet. Mit Sitzpolstern bewaffnet, strömen die Opernbegeisterten meist weit angereist zu später Stunde Richtung Theater. Reibungslos werden sie zu ihren Plätzen geleitet, das Personal, teils in bunten provenzalischen Trachten, ist bemüht, das Klettern auf den Stufen zu erleichtern. Pünktlich sitzen alle aufgereiht, der heftig einsetzende Mistral bläst die Hitze aus dem steilaufsteigenden Kessel des Amphitheaters und macht es auch den Musikern nicht immer einfach, die Noten festzuhalten. Der sommerliche Sternenhimmel bildet das romantische Dach dieser ausschließlich im Freien handelnden, dramatischen Liebesgeschichte. Als komische Oper tituliert, schuf Georges Bizet hier 1875 ein inhaltlich und musikalisch bahnbrechendes Werk, das für viel Wirbel sorgte. Noch heute wird viel über die Rolle und den Charakter der Titelheldin philosophiert.

So auch beim Regisseur dieser Neuinszenierung, Louis Desire. Ursprünglich als Bühnen- und Kostümbildner an vielen Aufführungen beteiligt, arbeitet er jetzt vermehrt auch als Regisseur. Aussagegemäß ist dieses Werk seine Lieblingsoper, die ihn bereits seit seiner Kindheit begleitet. Als Franzose in Spanien lebend, ist es für ihn keine typisch spanische Oper und Carmen eine emanzipierte, selbstbewusste Frau, die sich ihren Lebensunterhalt hart erarbeitet, die Oper eine sozialkritische Studie zwischen Rollenverhalten Mann und Frau, politischem System und gesellschaftlichen Schichten. 

Das vorbestimmte Schicksal, das den beiden in den Karten geschrieben ist, ist für ihn der eigentliche Aufhänger der Oper. So spielen Karten eine essentielle Rolle in der Gestaltung. Die Bühne ist übersät mit großen Spielkarten, die, immer wieder geschickt ausgeleuchtet, den Spielort auf der großen Bühne verkleinern und einschließen. Die Kostüme sind einfach gestaltet, die Damen treten einheitlich passend in orangefarbenen Kleidern auf, die Herren in Uniformen oder bäuerlichen dunklen Anzügen. Nur bei den originalen farbenprächtigen Kostümen der Toreros ist spanisches Kolorit spürbar. Die Massenszenen werden blockhaft und statisch gestaltet, hier werden Möglichkeiten versäumt, Spannung und Bewegung auf die Bühne zu bringen.

Das versuchen die Gesangssolisten, allen voran Jonas Kaufmann als Don José und Kate Aldrich als Carmen. Beide haben bereits in vielen verschiedenen Interpretationen dieses Werkes mitgespielt und bringen wirkungsvoll ihre Erfahrungen ein. Er ist auf die Rolle des Latin Lover mit seinem Aussehen und seinem weichen, dunkel gefärbten Tenor programmiert. Ebenso verinnerlicht hat Aldrich ihre Rolle nach mehr als 120 Auftritten. Dieser Don José bleibt lange ein verschlossener Außenseiter, der dem Geschehen abgeneigt ist. Die Hände in der Hosentasche, schlendert er – sehr wenig Soldat – über die Bühne, um dann mehr und mehr für Carmen ehrlich zu entflammen. Selbst ein kleine Flamenco-Tanzeinlage ist da drin. Stimmlich zeigt er sich in bester Form, schmettert seine Arien mit gewohnter Inbrunst und sicher in allen Höhen, beschwört inniglich Carmens Liebe, bis er hinreißend verzweifelt. Aldrich ist eine selbstbewusste Carmen, ein Vollblutweib, weder billig noch aufdringlich, sondern impulsiv lebenshungrig, die weiß, auf sich aufmerksam zu machen. Ihr Mezzo ist hell und klar, gleitet reibungslos über alle Register, bleibt in der Modulation zwischen lyrisch und dramatisch eng. Überzeugend Kyle Ketelsen als Escamillo. Mit seinem dunklen, kraftvollen Bariton, südländischem Aussehen und stolzem Gehabe wirkt er wie ein Torero auf dem Weg in den Kampf um Stier und Ruhm. Inva Mula gibt eine sehr blonde Michaela und integriert sich nicht wirklich in den Wettstreit um Don José. Stimmlich gestaltet sie ihre Rolle sicher und klangschön, aber ohne Wirkung.

Die will hingegen Mikko Franck, der Dirigent des Abends. Im Bürosessel thronend, gestikuliert er fleißig vor dem Orchestre Philharmonique de Radio France, doch stürmisch bleibt nur der Wind. Die Zwischenspiele bekommen nicht den richtigen Schwung, dafür begleitet er rund, förmlich trägt er die Sänger. Das Großaufgebot an Chor setzt sich aus vier Institutionen zusammen, den Opern von Nice, Angers-Nantes und Avignon sowie dem Maîtrise des Bouches du Rhône. Gut vorbereitet und durch den Dirigenten geführt, gelingen die Massenszenen musikalisch deutlich besser, als von der Regie umgesetzt.

Am Ende gibt es euphorischen Beifall für Aldrich und Kaufmann, aber auch viel Anerkennung für die weiteren Solisten und den Dirigenten. Das Regieteam wird in seiner Leistung deutlich abgelehnt. Weit nach Mitternacht leert sich das Theater rasch, und in eiligem Schritt zerstreut sich das Publikum in den Gassen und Plätzen. In Orange tritt wieder Ruhe ein.

Helmut Pitsch

 

Fotos: Philippe Gromelles