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Fakten zur Aufführung 

SWEAT SHOP
(Geheimagentur)
14. März 2015
(Premiere)

Theater Oberhausen, Malersaal


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

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Die enttäuschte Liebe einer Stadt

Wenn jemand ein „neues Genre“ oder eine „neue Theaterform“ ankündigt, ist Skepsis angebracht. Das Theater Oberhausen verkündet, in Kooperation mit dem Theaterkollektiv Geheimagentur aus Hamburg ein solches „neues Genre“ erfunden zu haben: Das Lecture Musical. Abgesehen davon, dass die größere Leistung möglicherweise darin bestanden hätte, einen griffigen deutschen Begriff zu finden, bleibt die Frage, ob „Gesang, Tanz, Theorie und Elektro-Funk“ tatsächlich – zumindest in dieser Kombination – ein neues Genre begründen. Wie heißt es so schön altmodisch? Klappern gehört zum Handwerk. Wer sich allerdings auf den – zugegebenermaßen durchaus keine Neuigkeiten bietenden – Stand der aktuellen Diskussion bringen will, was modernes Theater ausmacht, ist bei Sweat Shop durchaus gut aufgehoben. Partizipation, Interaktion, Auflösung des Bühnenraums und damit der Schranke zwischen Publikum und Ensemble, Entpersonifizierung des Schauspielers oder Einsatz neuer Medien, um nur die wichtigsten Stichworte des Diskurses zu nennen, finden sich in dem Musical wieder. Die gute Nachricht ist, dass trotz oder gerade wegen aller theoretischer Überlegungen am Ende ein prickelndes Stück Musiktheater entstanden ist, das den Zuschauer von Anfang bis Ende gefangen nimmt.

Das Ende einer Liebesgeschichte: Die Industrie trennt sich von der Stadt. In einer telefonischen Kurznachricht teilt die Industrie das mit. Alles Betteln und Sehnen der Stadt hilft nicht. Die Industrie ist weg, es bleibt der große Katzenjammer und die fehlende Zukunftsperspektive. Anbändelungsversuche der Stadt mit Wettbüros führen in noch größere Verzweiflung, dem „Trading-Down-Effect“, also dem Umstand, dass der billige Versuch, irgendwelche Wirtschaftsunternehmen in der Stadt anzusiedeln, zu Image-Verlust führt und den weiteren Untergang vorantreibt. Es sind also grundsätzlichere Überlegungen notwendig. Und so wird der Sinn und Unsinn von – fremdbestimmter – Arbeit in Frage gestellt. Ein unnötiger Bruch in der Geschichte, aber schließlich ist im Musical alles erlaubt. Ein Beispiel einer Fabrik aus Griechenland erinnert an die Überlegungen eines Max von der Grün, der bereits in seinen Werken Utopien über eine gerechtere Arbeitswelt entwickelte. Die Frage nach der Massentauglichkeit wird dabei mit der Schaffung einer weiteren Wirtschaftswelt beantwortet, ohne dass deren Praktikabilität überprüft würde. Und so bietet das Stück auch zum Ende hin ausreichenden Diskussionsbedarf.

Anstatt Ross und Reiter zu nennen, erfährt man über die Regie und die beiden Schauspieler auf der Bühne lediglich, dass sie dem Künstlerkollektiv Geheimagentur angehören. Feigheit vor dem Feind nannte man das früher. In diesem Fall manieriert, aber überflüssig. Denn was da auf der Bühne im Malersaal – der Studiobühne des Theaters – stattfindet, ist überaus lebendig und fantasievoll. Vor einem silberfarbenen Hintergrund findet sich rechts das Mischpult, das von viel Handarbeit, aber auch digitaler Technik kündet. Ein paar Stühle und Mikrofonständer vervollständigen zunächst das Bühnenbild, das vor allem durch später hineingeschobene Requisiten lebt. Im zweiten Akt wird die Bühne aufgelöst, und das Spiel verteilt sich über den Saal. Das ist großartig gemacht. Anna Ignatieva hat dazu Kostüme entworfen, die die Körper der Schauspieler entpersonifizieren. Unförmige, schwarze Overalls lösen die Schauspieler aus Geschlecht und Status; lediglich aus Styropor geformte Helmaufbauten, die zwischenzeitlich aufgesetzt werden, verraten etwas über die Rollenzuweisung, die von den Moderatoren zusätzlich mit den Klarnamen der Schauspieler angekündigt wird. Die letzte Konsequenz bleibt also aus. Damit werden auch die Kostüme beliebig. Hoher Technikeinsatz sorgt einerseits für einen dramatisch angepassten Lichteinsatz, aber auch für die ungewöhnliche Projektion auf weißen Fahnen.

Die Schauspieler des Oberhausener Theaters sind keine ausgebildeten Musical-Darsteller. Aber ihre sängerischen und darstellerischen Fähigkeiten reichen für das Happening vollkommen aus. Und umso höher sind ihre von Liz Kinoshita durchchoreografierten Bewegungen einzuschätzen. Vor allem, weil die Darsteller sich nicht sklavisch daran halten, sondern sich lieber locker durch den Raum bewegen. So bleibt der ansprechende Eindruck von Spontaneität erhalten. Sehr gelungen. Unforciert steht Sina Martens absolut im Vordergrund. Der Spielspaß, die Natürlichkeit der Bewegungen, aber auch die schauspielerische Präzision begeistern inmitten des „Kollektivs“, dem das Theater Anna Polke und Konstantin Buchholz beisteuert. Martens‘ zweite Gastproduktion in Oberhausen sollte durchaus zu weiteren Einladungen animieren.

Nach einem langen und arbeitsreichen Samstag einfach noch mal ein wenig Kultur zu genießen – das darf ja durchaus mit gesellschaftlichen Fragen behaftet sein – könnte wohltuend sein. Wenn da nicht die permanente Ansprache durch die Akteure auf der Bühne wäre. Mit ihren Mikros stürmen sie in die Zuschauerreihen, verlangen Antworten vom Publikum und deren Wiederholung. Permanent wird zum Applaus und zum Mitmachen aufgefordert, schließlich finden sich Zuschauer in einer Disco-Situation auf der Bühne wieder. Das nennt man Partizipation und Interaktion. Steht derzeit gerade in der so genannten freien Szene ganz hoch im Kurs. Aber auch beim Publikum an diesem Abend nicht. Zwei Drittel der Gäste verweigern sich der wieder und wieder geforderten Teilnahme. Das eigentlich gut gemeinte Angebot, die Aufzeichnung der Aufführung am nächsten Tag von der Website herunterladen und als DVD brennen zu können, führt dazu, dass ständig eine Kamera mitläuft, die auch das Publikum ohne Unterlass in den Blickfang nimmt. Da klatschst du mit, ob du willst oder nicht. Das ist anstrengend.

Gut, dass es da die Musik von den Sweat Shop Boys Knarf Rellöm und Till Steinebach gibt, die einerseits dem Titel des Musicals einen Sinn geben und andererseits mit einfachen Bass-Läufen und allerlei zugespielten Sounds ein wirklich und im Wortsinn spannendes Musical schaffen.

Von Applausordnung kann letztlich nicht die Spur einer Rede sein, hier versagt die Regie vollkommen. Was aber der Begeisterung des Publikums, wohl überwiegend eine Mischung aus Familie und Freunden, überhaupt nichts nimmt. Es wäre schade, wenn sich dieses Musical nicht wie ein Virus über die Lande verbreitet.

Michael S. Zerban

 







Fotos: Axel J. Scherer