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Fakten zur Aufführung 

TURANDOT
(Giacomo Puccini)
4. Oktober 2014
(Premiere)

Staatstheater Nürnberg


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

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Zweifelhafter Sieg

Giacomo Puccinis letzte Oper Turandot nach dem Libretto von Adami und Simoni blieb unvollendet; 1924 starb der Komponist, ohne dass er den Schluss vollenden konnte, mit dem er sich abquälte. So endet die Geschichte um die „eiskalte“ chinesische Prinzessin Turandot, die alle Bewerber um ihre Hand köpfen lässt, wenn sie die ihnen aufgegebenen Rätsel nicht lösen können, mit dem Tod der Sklavin Liu. Denn die verrät den Namen des von ihr ohne jede Aussicht auf Erfüllung geliebten Calaf nicht. Wenn Turandot ihn wüsste, müsste er sterben, obwohl er vorher alle drei Fragen richtig beantwortet hatte. In der Uraufführung der Oper 1926 klopfte Arturo Toscanini genau hier ab, sagte vor dem erschütterten Publikum: „Hier endet das Werk des Meisters“. Erst bei den folgenden Aufführungen und auch danach gab es ein Happyend dank der Nachkomposition durch Franco Alfano nach Skizzen von Puccini. Diese setzte sich allgemein durch. Weitere Alternativfassungen etwa durch Luciano Berio erfolgten.

Regisseur Calixto Bieito aber lässt bei seiner überzeugenden, von starken Bildern geprägten Inszenierung am Staatstheater Nürnberg die Oper wieder mit Lius Tod enden. Das ergibt Sinn. Denn der Katalane schildert in seiner Aufführung eine Welt der Gewalttätigkeit, der Entmenschlichung, der Frauenfeindlichkeit, der Massenpsychose. Er lässt erst einmal alles ohne Musik beginnen. Der Zuschauer blickt auf eine Bühne, eingerichtet von Rebecca Ringst, auf der säuberlich auf Kartons aufgereiht, Schildkröt-Puppen sitzen, von grellen Neonleuchten an einer niederen Decke bestrahlt. Dann kommen lauter gleich in blaue Anzüge und blaue Kappen von Ingo Krügler gekleidete Menschen, tragen diese Podeste samt Figuren weg, die Decke hebt sich, gibt den Blick frei auf Kartonstapel bis hoch hinauf; auf diese Wand wird ein Gesicht, ein Video von Sarah Derendinger projiziert; langsam werden im Verlauf des Geschehens chinesische Schriftzeichen darauf gepinselt, bis schließlich alles schwarz ist. Nachdem Calaf auf einem Fahrrad erscheint, formiert sich die gleich geschaltete Masse der „Blaumänner“, nunmehr mit Mundschutz ausgerüstet, in Reih und Glied. Das erinnert sogleich an chinesische Aufmärsche, an die Hysterie bei Sars. Als die Musik anhebt, laut, grell, gewaltig, verkündet der Mandarin, in korrektem Business-Anzug, den Erlass der Prinzessin Turandot: Sie wird nur den heiraten, der alle drei Rätsel löst, sonst müsse er sterben wie bald der Prinz von Persien. Trotzdem tritt Calaf vor, bewirbt sich gegen den Willen seines Vaters Timur als Kandidat für Thron und Hand. Es zeigt sich: Calaf, frontal in die Ferne schauend, ist fasziniert von einem Phantom, von der angeblich göttlichen Schönheit und Macht Turandots, obwohl er sie paradoxerweise im gesamten ersten Akt gar nicht sehen kann. Auch sein Vater und die treue Sklavin Liu können ihn von seinem Irrglauben nicht abhalten, ebenso wenig wie das gewalttätige Auftreten der drei Minister Turandots, hier hoch dekorierte Militärs. Diese behandeln das Volk rücksichtslos, höhnisch, quälen Frauen und erniedrigen sie, hängen Timur, Calaf und Liu Pappschilder mit der Aufschrift „Verräter“ um; das lässt an die Tribunale bei der Kulturrevolution denken. Calaf aber ist von seinem Verlangen nach der unerreichbaren Prinzessin nicht abzubringen, ritzt sich die Brust, hat keine Freude mehr, greift nicht ein, als sich die Minister brutal an Liu heranmachen. Er befindet sich wie im Delirium. Der zweite Akt beginnt mit einer trügerisch- verräterischen, bizarren Szene wie zu einem Fest: Viele rote Lampions schweben herab, eine Art weibliche Puppe, seltsam dekoriert, aber verletzt, erscheint. Die drei Minister entkleiden sie, ziehen sich weiße Brautkleider an, entblättern die geschändete Frau, verhöhnen sie, während sie von ihrem Besitz singen, sich ihrer Taten rühmen. Doch diese Schreckensvision verschwindet, und die Menge versammelt sich zu triumphalen Klängen, um die Prüfung Calafs mitzuerleben; es ist bezeichnender Weise wieder Nacht mit dem Mond als bleichem Gestirn, dem „Freund der Toten“. Kaiser Altoum, der angebliche Sohn des Himmels, hier ein nackter, kraftloser Greis, kriecht heran, mit einer Urne in der Hand, beschmiert sich mit Asche, während ihm der Chor grotesker Weise zehntausend Jahre wünscht. Endlich erscheint Turandot, ein Mannweib mit blondem Haar und erklärt ihr „eisiges“ Verhalten: Sie wolle ihre Urahnin rächen für das Unrecht, das ihr Männer angetan hätten; deshalb schwört sie: „Niemand soll je mich haben!“ Doch Calaf kann alle drei Rätsel lösen, befreit dabei die nackten Frauen, die an Seilen herunter hängen, von ihren Fesseln und besteht auf der Einhaltung des Vertrags. Aber Turandot verweigert sich ihm. Da gibt Calaf, nunmehr mit Rechten ausgestattet, als letzten Ausweg ihr selbst ein Rätsel auf: Sie solle seinen Namen, den sie bisher nicht weiß, herausfinden; wenn ihr das gelinge, werde er gerne sterben. Turandot, grell lachend oder weinend, nimmt ihre blonde Perücke ab, zeigt sich dem entsetzten Volk als abstoßend hässlich. Es weicht zurück. Nur Calaf ist noch immer verblendet. Angetan mit einem Schild „Poesie“ singt er die berühmte Arie Nessun dorma. Die Minister, die ihn mit in durchsichtige Folie gewickelten nackten Mädchen von seinem Vorhaben abbringen wollen, haben mit diesem Versuch keinen Erfolg. Calaf will unbedingt seine Siegesprämie Turandot. Liu aber, die seinen Namen weiß, lässt sich trotz aller Misshandlungen nicht beeindrucken; in aussichtsloser Liebe zu Calaf möchte sie keinesfalls seinen Namen verraten, opfert sich, indem sie Selbstmord begeht; auch Timur muss sterben. Das Volk aber, von den Ministern brutal entkleidet, kehrt sich ab von der grausamen Szene. Turandot hockt nun wie ein menschliches Ungeheuer auf dem Kleiderhaufen ihres Volks, zerstört langsam die Puppen aus den Kartons. Calaf aber tritt mit der Bitte um Verzeihung an Liu nach hinten ab, mit leerem Blick. Alles umsonst: Sein Sieg hat nichts erbracht außer Vernichtung. Das düstere Geschehen deutet der „pessimistische Optimist“ Bieito als irgendwie romantisch: Ähnlich wie in einer anderen Oper Puccinis, in Madama Butterfly, triumphiert Liu in ihrer Liebe, auch wenn sie dafür mit dem Leben bezahlen muss. Sie behält ihre Reinheit, während die Mächtigen befleckt zurück bleiben. Auch wenn sich einige Details in den symbolisch aufgeladenen Bildern bei dieser Inszenierung nicht so ganz erschließen, überzeugt doch die stimmige Interpretation, die Abkehr vom harmlosen Märchen aus ferner exotischer Vergangenheit, indem der Akzent gesetzt wird auf Machtbesessenheit, Grausamkeit, Massengesellschaft, nach wie vor aktuell.

Umso mehr wirkt das, als die musikalische Umsetzung mitreißend gelingt. Schon bei den ersten kraftvollen Takten überrollt den Hörer geradezu das, was dank der zupackenden Leitung von Peter Tilling aus dem Orchestergraben durch die hervorragend disponierte Staatsphilharmonie Nürnberg erklingt. Da wird eine geradezu betäubende Lautstärke differenziert eingesetzt, eine Art chinesisches Kolorit wird erzeugt durch den verstärkten Einsatz von Schlagwerk und exotische Streicherfarben, melodische Leitmotive fesseln. Auch die Riesenchöre des Staatstheaters, verstärkt durch den sanft klingenden Nürnberger Jugendchor des Lehrergesangsvereins, insgesamt geleitet von Tarmo Vaask, können wunderbar ausgewogen und mit dahin schmelzender Süße begeistern.

Vor allem aber imponieren die Sängerinnen und Sänger, besonders beeindruckend die bösartig starre Turandot der Rachael Tovey; ihr glaubt man sofort, dass sie aus ihrem Panzer von Stolz, Rache und Hass gegen die Männer nicht mehr heraus kann, und wenn sie mit ihrem kraftvollen, dramatischen, in den Höhen fast grellen, nie aber schneidenden Sopran ihre Arie In questa reggia herausschleudert, lässt einen diese innere Kälte erschaudern. Gegen sie ist ihr alter Vater ein Schwächling, und die etwas schwankende Stimme von Richard Kindley passt dazu bestens. Die drei Minister stellen demgegenüber gefährlich brutale Vollstrecker der Macht dar; dieses Trio infernale wird angeführt von Ping, dem hoch gewachsenen Sebastien Parotte, einem starken Bariton, während sich die beiden hellen Tenöre von Pang, Hans Kittelmann, und Pong, Martin Platz, ihm völlig unterordnen. Sehr formell tritt Taehhyun Jun mit sicherem Bariton als Mandarin auf. Viel Mitgefühl erregt der grausam gequälte Timur, und Nicolai Karnolsky singt ihn auch äußerst beeindruckend mit seinem kräftigen, nicht allzu dunklen Bass. Sein Sohn Calaf ist der in Turandot vernarrte sieglose Held. Vincent Wolfsteiner spielt ihn als konsequent verblendeten, rationalen Einsichten nicht zugänglichen Mann und gestaltet seine Partie mit verhaltener Leidenschaft, kann in seiner berühmten Arie mit fein glänzenden Weitungen gefallen. Am meisten Sympathie aber zieht die Figur der Liu auf sich, so wenn Hrachuhí Bassénz mit ihrem vollen, dunkel schimmernden Sopran ihre Liebe bekennt, Calaf das aber nicht registriert.

Das Publikum jedenfalls feiert sie mit langen Bravos für ihre berührende Darbietung, ebenso stark die Darsteller von Turandot und Calaf; auch die übrigen Mitwirkenden, vor allem Dirigent, Orchester und Chor erhalten großen Beifall. Als aber das Regieteam die Bühne zum Applaus betritt, bricht ein Buhsturm los, allerdings bekämpft von ebenso lauten Bravo-Rufen und standing ovations. Das Publikum ist also gespalten. Mal sehen, wie die Zuhörer im Théâtre du Capitole Toulouse und in der Northern Ireland Opera Belfast reagieren. Denn dorthin wird die Inszenierung auch wandern.

Renate Freyeisen

 

Fotos: Marion Bührle