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Fakten zur Aufführung 

HÄNSEL UND GRETEL
(Engelbert Humperdinck)
2. November 2014
(Premiere)

Staatstheater Nürnberg


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Im Bann der Knusperhexe

Sind Märchen logisch? Das Staatstheater Nürnberg beantwortet diese Frage in Engelbert Humperdincks Oper Hänsel und Gretel eher negativ, bebildert munter drauflos und bedient dabei viele Klischees, die sich um das Grimmsche Märchen ranken. So gibt es in dieser Bilderflut von Bühnenbildner Harald B. Thor nach einem Konzept von Andreas Wilkens allerdings auch jede Menge mit Lametta geschmückte, glitzernde Christbäume; warum wohl? Das Werk ist eben ein beliebtes Stück zur Weihnachtszeit. Da ist es dann schon egal, dass im Stück die Mutter ihre Kinder zum Beerenpflücken in den Wald schickt, mitten im Winter; und es ruft auch kein Kuckuck in der Natur, sondern die Kuckucksuhr an der Wand in diesem großbürgerlichen Heim eines Besenbinderfabrikanten der Gründerzeit. Während der Ouvertüre erfahren wir von seinem Bankrott, denn der Gerichtsvollzieher lässt eben das letzte Bild wegtransportieren. Doch scheinbar reicht das Geld in der Familie immer noch für eine gestrenge Gouvernante, und auch so richtig Hunger, Armut oder Not leiden muss da niemand; alle wirken doch recht proper. Das sind irgendwie logische Brüche, und was Fantasie, was Realität sein soll, wo der Übergang vom Traum zur Wirklichkeit stattfindet, das wird in dieser Inszenierung von Andreas Baesler nicht ganz klar. So fragt der Vater, als er beschwipst heimkehrt, wo denn die Kinder seien – die liegen vor seiner Nase in den Stockbetten, sollen sich aber angeblich im Wald aufhalten, wo Hänsel vom Weihnachtsbaum einiges in sein Körbchen „gepflückt“ hat. Allerdings ist es ein hübscher Einfall, dass der Vater das Märchen der Gebrüder Grimm von Hänsel und Gretel vorliest, während eine sich drehende Lampe den Hexenritt als fortlaufende Projektion an die Wand wirft. Verzauberung oder Grusel stellen sich trotzdem nicht ein. Die vierzehn Englein beim Abendsegen erscheinen hier paarweise als weiße Geistergestalten der theatralischen, märchenhaften Vergangenheit vom Mittelalter bis fast zum Heute, seltsam unwirklich zu reichlich Theaternebel. Traum, Fantasie, Spiel und Realität mischen sich, die Grenzen verschwimmen; so halten die Kinder Hänsel und Gretel ständig ihre Doppelgänger als Puppen in der Hand, vollführen mit ihnen allerlei Kasperletheater und Stellvertreter-Spiele, und, als wäre das noch nicht genug, erscheinen sie sich selbst auch noch lebendig als niedliche Kleinkinder, während das Sandmännchen, eine Art Clownspuppe, Glitter zum Schlafen ausstreut. Im dritten Akt, als nun endlich etwas Wald-Atmosphäre aufkommt, die Christbäume sich vervielfältigt haben und der Haussegen, also die Wohnzimmerkulisse, schief hängt, bestätigt sich, was man schon vorher ahnt: Die Böse, die Hexe, ist natürlich die Erzieherin mit ihrer weißen Schürze, mit Rohrstock und Besen bewaffnet und nun mit einer spitzen Nase versehen. Nach einigem Hin und Her mit Ver- und Entzauberung wird diese Verführerin zur süßen Völlerei schließlich zur Strafe ihrer Untaten in den Kamin-Ofen geschoben, wo sie explodiert. Hänsel und Gretel sind gerettet und die vielen verzauberten Kinder mit den Lebkuchenherzen erlöst. So kommt alles wieder ins Lot, auch die Kulisse. Diese Inszenierung schockt also keineswegs, sondern will mit freundlichen, naiven Bildern unterhalten, unterstützt vom Wiedererkennungseffekt bei den volksliedhaften Melodien. Diese bürgerlich-wohlanständige Atmosphäre wird auch noch unterstrichen durch die Kostüme von Gabriele Heimann, die sich an der Mode der Jahrhundertwende orientieren. Auch die Kinder Hänsel und Gretel sind brav, bewegen sich im Grunde wohlerzogen, dürfen nur ab und zu etwas übermütig herumhopsen. Mutter und Erzieherin agieren dagegen steif, während der Vater noch am natürlichsten wirkt. Erst als die weißen Ersatz-Engel ins Zimmer schreiten, das Sandmännchen in seinem bunten Puppen-Gewand den Schlaf beschwört und das Taumännchen die Kinder wieder weckt, beginnt der visionäre Teil des Ganzen mit dem glücklichen Ende: Die Hexe ist besiegt, die Kinder befreit, und der Vater schwenkt zum Abschied das Märchenbuch der Brüder Grimm. Eigentlich aber entspricht diese ganze pädagogisch „wertvolle“ Geschichte mit der Warnung vor enthemmtem Genuss eher der Tendenz der Bechstein-Märchen. Kein Wunder, wenn man da etwas verwirrt wird.

Dagegen leitet die Musik dieser beliebten Oper den Zuschauer durch alle Untiefen des Verstehen-Wollens, lullt ihn ein, trägt ihn weiter, auch wenn er sich bisweilen, etwa zu Beginn des dritten Bildes, etwas langweilt. Guido Johannes Rumstadt führt die Staatsphilharmonie Nürnberg sicher und umsichtig; schon in der Ouvertüre, sanft beginnend mit dem Abendsegen-Motiv, werden alle wichtigen Themen ausgebreitet, gewinnen an Farbe, nicht immer an Kontur, steigern sich schicksalhaft. Auch wenn später Sänger und Orchester manchmal etwas auseinanderdriften, der satte, runde Klang, die Durchsichtigkeit an den feinen Stellen, die ausgezeichneten Bläser gefallen sehr. Von den Personen schlägt sich am besten Jochen Kupfer in seinem Rollendebüt als Vater Peter, imponiert vor allem mit seiner angenehm klingenden, präsenten, nie angestrengten Stimmkraft. Als seine Frau Gertrud kann Ekaterina Godovanets ihren dramatischen Sopran wirkungsvoll einsetzen. Bei Hänsel und Gretel hätte man sich vielleicht mehr Unterschied in Stimmcharakter und Stimmfarbe gewünscht, doch Silvia de La Muela, ein nicht allzu dunkler, sicher geführter Mezzosopran, gestaltet ihre Hosenrolle frisch und sehr glaubhaft, und Michaela Maria Mayer, mit einem nicht allzu hellen Sopran ausgestattet, mimt die besorgte größere Schwester mit gespielter Naivität. Als Knusperhexe kann Leila Pfister mit stimmlicher Durchschlagskraft und Strenge vor allem Boshaftigkeit vermitteln, während Csilla Csövári als Sandmännchen und Taumännchen mit hellem Sopran glänzen darf. Mit einem wunderschön klingenden Schlussbild überrascht der große Nürnberger Jugendchor des Lehrergesangsvereins, geleitet von Barbara Labudde, als glückliche Schar der erlösten Lebkuchenkinder.

Das Publikum im nahezu voll besetzten Haus feiert alle Mitwirkenden lange; beim Erscheinen des Regieteams werden jedoch unüberhörbar einige Buhrufe laut. Möglicherweise wird diese Koproduktion mit dem Theater in Toulouse in Frankreich eine etwas andere Aufnahme finden, denn dort ist dieses oft fälschlich als Kinderoper verstandene Werk nicht so populär.

Renate Freyeisen

 

Fotos: Jutta Missbach