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Fakten zur Aufführung 

DAS FLIEGENDE KIND
(Roland Schimmelpfennig)
17. März 2015
(Premiere am 13. März 2015)

Rheinisches Landestheater Neuss


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Größter anzunehmender Unfall

Wie fasst man das Unfassbare, wie erkläre ich das Unerklärliche? Mit theatralischen Mitteln womöglich. Roland Schimmelpfennig, der als größter Dramatiker der Gegenwart bezeichnet wird, hat sich an das vielleicht schlimmste Drama gewagt, das Menschen widerfahren kann. Ein Kind stirbt. Und schlimmer noch: Kinder sterben nicht auf den Barrikaden eines Gerechtigkeitskampfes, um wenigstens posthum als Helden verehrt zu werden. Sie sterben nicht, während sie andere Menschenleben in spektakulären Aktionen retten. Sie werden bei Straßenverkehrsunfällen getötet, ersticken im eigenen Bettchen oder fallen unsinnigen Kriegen zum Opfer. In allen Fällen scheinen es unsinnige, unfassbare, unerklärliche, sinnlose Tode zu sein, und immer stirbt ein Stück Zukunft.

Das vermutlich grausamste Schicksal, das Eltern widerfahren kann, auf die Bühne zu bringen, kann von Mut oder Scharlatanerie zeugen. Schimmelpfennig gelingt das Unwahrscheinliche mit seinem Fliegenden Kind. Und Anna-Lena Kühner bringt es im Rheinischen Landestheater Neuss auf die Studiobühne. Schon der Ort ist klug gewählt, bietet er doch einen intimen Rahmen, in dem die nötige Intensität entstehen kann. Eine quadratische, offene Spielfläche, an deren Rand acht Würfel aufgestellt sind, über denen halbkugelförmige Lampen aufgehängt sind, die später als Glockensymbole dienen. Ein paar Requisiten – mehr braucht es nicht, um die nahezu alltägliche Situation darzustellen, die der Autor mehr erzählen als zeigen lässt. Es ist St. Martin, Kinder und Eltern sind in der Kirche, um anschließend zum Sankt-Martins-Zug aufzubrechen. Eigentlich ist der Umzug schon auf „sicherem Gelände“, als ein kleiner Junge zurückläuft und von einem Auto überfahren wird. Kühner kommt mit vier Personen aus, die Grit Wiendicke – auch für die Bühne zuständig – in graue Anzughosen, weiße Hemden und Trenchcoats steckt. Damit deutet sich schon der „Kniff“ an, den Schimmelpfennig respektive Kühner anwenden. Es gibt keine Rollenzuweisungen, sondern einen Chor – einen Sprechchor. Emotionslos, als trügen die Schauspieler Masken eines griechischen Chors, werden Vorgeschichte, Hintergründe und das Geschehen aufgedröselt, bis dem Zuschauer das Blut in den Adern gefriert. Kühner zeigt hier eine außergewöhnlich präzise Personenführung, in der die Akteure voll und ganz aufgehen. Natürlich werden auch Martinslieder gesungen, in aller Ernsthaftigkeit, die eher beunruhigend wirkt. Aber das nachhaltig Eindrucksvolle ist und bleibt die Sprache des Chors, die unglaublich synchron funktioniert, zersplittert, zerfasert, um wieder zusammenzufinden. Subtiler Symbolismus bleibt unaufdringlich, unterstreicht eher die Gesamtwirkung.

Viel Zeit verwendet der Autor auf die Schilderung der Alltäglichkeit der Situation, ehe die Schauspieler den eigentlichen Horror aufdecken. Hergard Engert, Ulrike Knobloch, Philipp Alfons Heitmann und Rainer Scharenberg, allesamt erfahrene Profis, sind weniger in der Darstellung als vielmehr in der Sprache gefordert. Fast schon arios lassen sie sich in häufigen Wiederholungen auf kleinste Nuancen ein, variieren glaubhaft zwischen Erwachsenen- und Kinderrollen und haben alle wieder ihre „Masken“ auf, wenn sich der ganze Abgrund in einer Küche eines Hauses in der Vorstadtsiedlung auftut.

Am Ende ist wenig gesungen, dafür alles, nein, zu viel gesagt. Betroffenes Schweigen der viel zu wenigen Besucher hält lange an, die Akteure werden ob ihrer Leistung heftig beklatscht, aber am größten anzunehmenden Unfall teilgenommen zu haben, lässt das Publikum nicht kalt. Es dauert lange, bis die ersten das Studio verlassen. Darunter viele, die froh sind, dass sie noch an dem Nachgespräch mit Dramaturgin Maike Fölling teilnehmen dürfen. So ist das, wenn der größte Dramatiker der Gegenwart im Rheinischen Landestheater Neuss aufgeführt wird.

Michael S. Zerban

 

Fotos: Björn Hickmann/Stage Picture