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Fakten zur Aufführung 

BELLA CIAO!
- LIEDER FÜR EINE GERECHTE WELT

(Klaus von Heydenaber)
12. September 2015
(Premiere)

Rheinisches Landestheater Neuss


Points of Honor                      

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Weltenbrand im Traumland

Die etwas umständliche Ankündigung „Bella Ciao! – Lieder für eine gerechte Welt – Ein Agit-Pop-Abend mit Live-Musik“ verspricht einen rührseligen Abend für Alt-68-er. Und wenn man das weiß, kann man sich ja auch darauf freuen. Die Zeiten, in denen das Theater Ort politischer Auseinandersetzung und Reflektion war, scheinen ja in mehr und mehr Häusern angesichts gefühlter ökonomischer Zwänge der Vergangenheit anzugehören. Da ist es doch ganz schön, wenn man beim Hören politischer „Schlager“ in Erinnerungen schwelgen darf. Und wenn die Jüngeren Gefallen daran finden, umso schöner. Allerdings scheint das Interesse da doch eher marginal zu sein. Am Premierenabend gibt es mehr als reichlich freie Plätze.

Die Welt steht in Flammen. Lange schon. Aber jetzt, nachdem die Flüchtlingsströme aus Syrien plötzlich vor der eigenen Haustür auftauchen, wachen auch die Deutschen auf. Und staunen, was all die Waffenverkäufe, die der deutschen Rüstungsindustrie zu allergrößtem Wohlstand verholfen haben, im Rest der Welt anrichten. Zwar haben sie nicht am Verdienst partizipiert, dafür aber fällt ihnen jetzt das Elend der Opfer auf die Füße. Immer häufiger fragen sich immer mehr Menschen, ob man eigentlich dieses verlogene System weiter mittragen kann – oder ob es nicht Zeit für eine Revolution ist.

Regisseurin Katharina Schmidt treiben noch mehr Fragen um. „Was macht Protest aus? Was macht eine Gruppe zu einer Bewegung und welchen Verlauf kann diese nehmen, wenn das Aufbegehren gegen ein System immer kompromissloser wird?“ Es sind also nicht die Fragen an das Heute, wo es erst einmal darum geht, die größte Not so vieler Menschen zu lindern. Sondern es sind die Fragen an das Morgen, wenn wir aufbrechen wollen, den sich stets wiederholenden Zyklus der Geschichte zu durchbrechen, in dem sich immer wieder wenige an vielen bereichern.

Enjoy the revolution! heißt es da plötzlich im Rheinischen Landestheater Neuss – und das hat so gar nichts mit Rührseligkeit zu tun. Statt romantisch-politisch verbrämter Lieder geht es da gleich von Anfang an zur Sache. Ein hoher Militär rezitiert den Text von John Lennons Hymne Imagine auf Deutsch. Eine Gruppe betritt derweil die Bühne von Ivonne Theodora Storm. Die Rückwand erinnert an mit Nieten befestigte Panzerplatten. Auf dem ovalen Podest davor sitzt die fünfköpfige Band. Die Schauspieler nehmen zunächst an Pulten Platz, die in der Mitte des Raumes stehen. Mit weißen Oberteilen und dunklen Hosen wählt Storm bewusst die Uniformität, lässt die Musiker in schwarzer Bekleidung in den Hintergrund treten und bricht nur an drei Stellen die Einheitlichkeit mit fantasievollen Generalsuniformen und einer Sängerin im dunkelblauen Suit mit übergeworfenem, braunem Poncho auf. Raum für Interpretation steht offen; ihn zu füllen, bleibt indes wenig Zeit.

Schmidt lässt hier nicht einfach eine Revue von Liedern präsentieren, sondern ordnet die Geschichte in Kapiteln, denen jeweils ein Lied zugeordnet und aufgebrochen wird. Durchtränkt von Zitaten, die nur in seltensten Fällen aus Facebook stammen, sondern in der Regel aus den Genickbrüchen der Geschichte, wie etwa ein Brief der Geschwister Scholl, werden Bestandteile von Liedern wie Respect von Otis Redding, der Marsellaise, aber auch Die Gedanken sind frei angestimmt – neu und überaus interessant arrangiert von Klaus von Heydenaber. Die Schauspieler sind derweil in Aufbruchstimmung. Da werden Blogs gefüllt, die bereits 27 Besucher verfolgen, Flash Mobs angedacht, Demos organisiert und ein „Vagina Day“ ausgerufen. Ja, es fehlt nicht an guten Vorschlägen, die Revolution von Morgen zu organisieren. Und alle sind mit Feuereifer dabei. Was aber, wenn das Regime das eigene Volk blutig niederschlägt? Wenn die Regierungen aus Angst um den Machterhalt seit vielen Jahren die Menschenrechte mit Füßen in den Abgrund treten? Aber auch: Was, wenn die Revolution erfolgreich ist und ihre Abweichler bestraft? Es scheint im Eifer des Gefechts alles nicht zu Ende gedacht. Schmidt ruft auf, den Zyklus der ewigen Wiederholungen zu durchbrechen und die Weltgesellschaft neu zu denken. Was ihr am Ende bleibt, ist der Traum, den es jeden Tag neu zu träumen gilt – von all den Utopien, die bis heute nicht verwirklicht sind. Selten wird man in diesen Tagen ein intelligenteres Stück zur gegenwärtigen Lage finden, das theatralisch so wirksam umgesetzt ist.

Dazu tragen ausgezeichnete Schauspieler bei, von denen einer besser als die andere ist. Ulrike Knobloch, die mit ihrem jazzig angehauchten Gesang begeistert, stellt die provokante Frage, was eigentlich passiert, wenn Behausungen wie etwa das Benrather Schloss, das zu den drei schönsten Schlössern Nordrhein-Westfalens zählt, zu Flüchtlingsheimen umgestaltet werden – man kann das Schlucken des Publikums förmlich hören. Die grandiose Linda Riebau wird uns gelegentlich zu verraten haben, woher der Glanz in ihren Augen rührt, wenn sie als Generalin die erfolgreiche Revolution anführt; ehe sie erkennen muss, dass die Überwindung der unterdrückenden Herrschaft das eine, die Gesellschaft in eine neue Ordnung zu überführen aber scheinbar unlösbar ist. Alina Wolff kommt vom Theater Trier, wo sie bereits zu den Publikumslieblingen gehörte, und gestaltet ihre erste Spielzeit in Neuss gleich mal stupende. Als Revolutionärin versprüht sie Funken. In Rainer Scharenbergs hervorragender Leistung können sich dann auch endlich die Alt-68-er wiederfinden. Und Michael Großschädl treibt einem die Gänsehaut über den Rücken, wenn er als einzig Aufrechter zugibt, gescheitert zu sein, aber seinen Traum nicht aufgeben will und ihn morgen wieder neu träumen wird.

Von Heydenaber drückt mit seiner fünfköpfigen Band mächtig aufs Gas. Da wäre manchmal in der Lautstärke ein Gang tiefer auch kein Verlust. Aber seine Arrangements überzeugen von der ersten bis zur letzten Minute.

Im Publikum mag der eine oder andere sitzen, den die aktuellen Entwicklungen nicht mehr so sehr interessieren, weil er oder sie die Welt kennengelernt hat und weiß, dass da eh nichts mehr zu ändern ist. Aber auch diese Herrschaften lassen sich von der Botschaft der Regisseurin überzeugen und applaudieren langanhaltend: „Wir können eine Welt gestalten, wie sie die Welt noch nie gesehen hat!“ Gleich zu Beginn der Spielzeit hat das Rheinische Landestheater Neuss mit dieser Produktion die Messlatte mehr als hoch gehängt.

Michael S. Zerban

 

Fotos: Björn Hickmann/Stage Picture