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Fakten zur Aufführung 

JEUX INCONNUS
(Stephan Toss, Marcos Morau)
11. März 2015
(Premiere)

Opéra National du Rhin, La Filature, Mulhouse


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Dunkle Materie, eiskalte Welt und Petits fours

Der letzte Applaus verklingt, das Licht im Saal der Filature in Mulhouse blitzt auf. Jetzt will man als Premierenbesucher eigentlich nur noch eines: Petits Fours. Denn die kleinen Leckereien versetzten kurz zuvor sechs Damen im betuchten Alter auf der Bühne in ekstatisch getanzte Verzückung. Unter dem Titel Jeux inconnus – zu Deutsch unbekannte Spiele – präsentiert das Ballettensemble der Opéra National du Rhin neben Stephan Thoss‘ humoristischer Choreographie Boléro zwei weitere Werke: La Chambre Noir, ebenfalls vom Ballettdirektor des Wiesbadener Staatstheaters, sowie mit Marbre eine Uraufführung von Marcos Morau. Er gilt auf der iberischen Halbinsel derzeit als einer der bedeutendsten Choreographen. 2013 wurde Morau mit dem nationalen Tanzpreis Spaniens ausgezeichnet.

Als Auftakt der Ballett-Trilogie entführt Stephen Thoss zunächst in die „Dunkelkammer“ – und damit in die Weite eines unheimlichen, angsteinflößenden Universums. Auch für Kostüme, Bühnenbild und Beleuchtung zeichnet er selbst verantwortlich. Choreographie-Assistentin ist Mia Johansson. Kreaturen bewegen sich mal mehr Tier, mal mehr Mensch über die Bühne. Sie fliegen, schwimmen, hetzen durch die Dunkelheit des Weltraums - ängstlich, panisch, um Leben und Tod kämpfend. Doch ist das nur die eine Seite der Dunkelkammer. Denn auch wenn das Universum zu 25 Prozent aus dunkler Materie und zu etwa 70 Prozent aus dunkler Energie besteht, schafft es das Licht manchmal, die Dunkelheit zu durchbrechen: Dann vereinen sich Körper für Momente in hochemotionaler Zärtlichkeit.

Den Tänzern Erika Bouvard, Christelle Daujean, Sarah Hochster, Céline Nunigé, Yann Lainé, Renjie Ma, Hamilton Nieh und Marwik Schmitt gelingt es exzellent, die unterschiedlichen Stimmungen zu vermitteln. Sie winden sich, strecken die Arme verzweifelt dem Licht entgegen, zucken ekstatisch. Im nächsten Moment umschlingen sie sich in inniger Verbundenheit, liebkosen sich – verletzlich, sensibel. Dann verharren sie – und schon werden sie zurück in die Dunkelheit gerissen. Das Spiel beginnt von neuem.

Die Musik kommt den ganzen Abend über vom Band. Stephen Thoss sorgt in La Chambre Noire mit einem Mix aus sphärischen Klängen und dumpf hallenden Herzschlägen für Gänsehaut. Unterbrochen wird die Gruselatmosphäre in den zärtlichen Momenten akustisch von Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn-Bartholdy oder zum Beispiel auch Hans Zimmer.

Als nächstes malt Marcos Morau gemeinsam mit Choreographieassistentin Imma Assensio in der Uraufführung Marbre, zu Deutsch Marmor, ein nicht weniger düsteres Bild einer eiskalten Welt: Zwei Menschen sitzen mit Kopfhörern und Mikrofon in zwei Glaskästen. Sie bewegen die Lippen, scheinen zu plaudern, zu diskutieren und zu lachen. Draußen allerdings hört man nur ein leises Murmeln, versteht nichts. Jene, die sich außerhalb der fast schalldichten Käfige aufhalten, kommunizieren nicht. Begegnen sich zwei, sehen sie sich mit schüchterner Neugier an, tasten Gesichter ab, wollen den anderen kennenlernen. Eigentlich. Doch zucken sie bei jeder ungelenken Berührung zusammen und ziehen sich zurück in die grausame Isolation. Moraus Choreografie ist vor allem stark, weil sie ein Dilemma unserer Zeit auf den Punkt bringt: Kommuniziert wird über Internet, Smartphones und Co., echte menschliche Begegnungen bleiben auf der Strecke.

Erika Bouvard, Christelle Daujean, Sayoko Hirano, Renjie Ma, Hamilton Nieh und Marwik Schmitt setzen erneut auf emotionalen Ausdruck: Die Tänzer außerhalb der Glaskästen bewegen sich wie Roboter. Wille und Körper der Robotermenschen harmonieren nicht, manche Körperteile schieben sie mit den Händen in die richtige Richtung. Dazu erlebt das Publikum verzweifelte Blicke, verschreckt hochgezogene Schultern. Stark: Begegnungen, in denen zwei oder drei Körper sich zu verknoten scheinen.

Arvo Pärt arbeitet in seiner Komposition zu Marbre mit elektronischen Klangeffekten, gregorianischen Anleihen, Glockenschlägen, wilden Disharmonien am Klavier, aber zum Beispiel auch zarten, klingenden Streichern.

Nach der Pause könnte der Kontrast nicht drastischer sein, denn: Stephen Thoss‘ Choreographie Boléro dürfte zu den witzigsten auf den heutigen Tanzbühnen zählen, uraufgeführt wurde sie 1999 in Kiel und hat längst Kultstatus. Sechs betagte Damen treffen sich zum Kaffeekränzchen. Sie stricken, lesen, nippen zu Max-Raabe-Klängen an den Tässchen. Gebeugte Rücken, trippelnde Schrittchen und eingerostete Gelenke zeugen von körperlichen Gebrechen. Dann allerdings passiert es: Eine der Damen verteilt Petits Fours, legt eine Maurice-Ravel-Platte auf. Jedes Häppchen wird nun zum ekstatischen Erlebnis für die Ladys, zu den Boléro-Klängen steigern sie sich in höchste körperliche Verzückung.

Stephan Thoss‘ Choreografie ist schon an sich unglaublich witzig. Sie gewinnt aber noch durch das Schauspieltalent von Erika Bouvard, Susie Buisson, Christelle Daujean, Sandra Ehrensperger, Anna Ishii und Wendy Tadrous: Man nimmt den Tänzerinnen die einzelnen Charaktere in der Damenrunde ab – die Korrekte etwa, die Liebeswerte oder die Elegante. Herrlich komisch: die slapstickhaften Tanzbewegungen alter Damen in Ekstase.

Das Publikum weiß zu würdigen, dass es in Jeux inconnus nicht nur mit düsteren Szenarien konfrontiert wird – es honoriert den Boléro mit besonders viel Applaus und Bravorufen. Trotzdem macht den Reiz des Tanzabends vor allem die interessante Mischung dreier ganz unterschiedlicher Choreographien aus. Das i-Tüpfelchen: ein hochmotiviertes Ensemble, das durch die Bank mit richtig starkem Ausdruck punktet.

Michaela Schneider

 



Fotos: Jean-Luc Tanghe