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Fakten zur Aufführung 

ARIODANTE
(Georg Friedrich Händel)
26. Mai 2015
(Premiere am 28. März 2015)

Theater Münster


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Die Götter sind schuld immer

Schirme nach Münster zu tragen heißt fast, Eulen nach Athen… Schirme zu einem Gestaltungselement in einer Oper zu machen, ist zumindest – kess, wo doch schon der gesamte Zuschauerraum in Münsters Theater von Hunderten von Schirmen in Gestalt der Deckenlampen beleuchtet wird. Und doch, Kobie van Rensburg gelingt es, diese Schirme und weitere witzig-ironische Einfälle ausgerechnet in einer Händel-Oper stilgerecht zu nutzen und der Oper einen neuen, ungewohnten Duktus zu geben. Seine eigene Karriere als renommierter Operntenor bis hin zu Auftritten in der Deutschen Oper Berlin und der MET kommt ihm dabei zugute.

Auch geht nichts über ein selbstständiges Orchester, das einfach zu spielen beginnt – wenn der Dirigent mal keine Lust hat oder den Bus verpasst. Aber dann kommt er doch noch, Stefan Veselka, der heute an Stelle von Fabrizio Ventura die musikalische Leitung übernimmt.

Mit zwei Liebespaaren, einem intriganten, bösen Herzog und dem neutralen Vermittler und Gutmenschen sind das Personentableau und der Handlungsrahmen knapp beschrieben. Die Liebesbeziehung zwischen Ariodante, einem Adligen, und Ginevra, der Tochter des Königs von Schottland, wird von Polinesso, dem machtbesessenen Herzog von Albany empfindlich gestört. Auch Dalinda, die Vertraute Ginevras, erliegt beinahe dem intriganten Zugriff von Polinesso.

Die eher repräsentative Figur des Königs wird in mächtiger Statur und mit vollem Bass von Lukas Schmid gespielt. Dem Ariodante gibt Lisa Wedekind in zarter Gestalt und mit ausdrucksstarker Mezzostimme einen leicht zerbrechlich wirkenden Ausdruck. Besonders einige gefühlvolle Arien im zweiten Teil gelingen ihr gut. Henrike Jacob, Sopran, singt die Königstochter Ginevra mit tragender, gefühlvoller Stimme, sie hat Erfahrung mit vielen Werken des Barock. Nicholas Tamagma gibt dem Polinesso einen bösen, oft zynischen Anstrich. Hierzu trägt ein scharfer, einem Countertenor ähnlicher Stimmausdruck mit bei. Die Rolle des Lurcanio, des Bruders von Ariodante, übernimmt Youn-Seong Shim, der darstellerisch eher im Hintergrund bleibt, aber mit klassischer Tenorstimme und gutem Ausdruck überzeugt. Eva Bauchmüller, Sopran, zeigt die Dalinda, die Vertraute der Ginevra, als treue, aber für intrigante Zwecke missbrauchte Freundin als hin- und her gerissene, etwas naive Hofdame.

Das durch einige Barockinstrumente wie Cembalo und Thorbe (Basslaute) ergänzte Symphonieorchester Münster begeistert unter Leitung seines Ersten Kapellmeisters Stefan Veselka durch temperamentvolles, lebendiges Spiel. Vor allem im zweiten Teil haben die Zuschauer den Eindruck, dass sich Orchester und Darsteller auch in der letzten Vorstellung dieses Stückes in schönste Spiellaune gespielt haben – von Müdigkeit keine Spur. Kompliment!

Van Rensburg scheut sich nicht, die „sagenhafte Zeit“ dieser höfischen Intrigen-Komödie mit modernen Elementen in die heutige Zeit zu holen. Dazu greift er stilsicher und unbekümmert auf Video-Einspielungen zurück, lässt Comic-Sprechblasen mit „Zoom“ und „Plopp“ einblenden oder hinter leicht vernebelnden Gazevorhängen einen Hexensabbat aufführen. Schirme erscheinen als dunkle Bodenskulpturen oder als sonnenähnliche Himmelbedachung. Und doch wirken diese Einfälle keineswegs aufgesetzt oder modernistisch, eher wie eine zeitgemäße Fortschreibung des frühen Versepos von Orlando und dem darauf basierenden barocken Libretto.

Dazu gehört die geschickt wechselnde Einblendung der Untertitel, die immer, im engen Bezug zur Handlung, auf Freiflächen der Dekoration erscheinen. An anderer Stelle tauchen Tanzfiguren auf, die dem schwarz vermummten und maskierten Tod aus dem Film Amadeus ähnlich, van Rensburg zitiert ohne Scheu.

Händel, in Europa eher als Kirchenmusiker und Komponist durch seine Oratorien und Kammermusiken bekannt, wird in dieser Inszenierung als Opernkomponist neu entdeckt. Am Ende der Vorstellung hat der Besucher den Eindruck, einen neuen, lockeren, lebensfrohen, manchmal frechen Händel erlebt zu haben. Van Rensburg nimmt den Komponisten als Barockfigur und erinnert inszenatorisch daran, dass die heute noch verwendete Redensart von der „barocken Lebensweise“ ihren Ursprung im Portugiesischen hat, das damit eine  ungleichmäßige, schiefe oder merkwürdige Lebensart meinte. Inzwischen dürfte auch die Bedeutung eines ausschweifenden Lebens dazu gekommen sein. Vom religiös fixierten, dem Hochgeistigen oder Himmlisch-Jenseitigen verpflichteten Händel bleibt kaum eine Spur.

Die Zuschauer erleben völlig überraschend ein „galaktisches Vergnügen“, das ihnen einen „aufgefrischten Händel“ präsentiert. Van Rensburg hat es gewagt, dem gängigen Händel-Bild eine herrliche Facette hinzuzufügen, die die Lebensfreude des Barock überzeugend und häufig augenzwinkernd nachmalt. Ein Mittel sind dabei zahlreiche Einsprengsel heutiger Ausdrucksformen, die die Inszenierung stilsicher einfügt und damit zeigt, wie aktuell das Lebensgefühl des Barock ist.

Von dieser Mischung ist das Publikum schlicht begeistert. Ein lang andauernder, mit Johlen, Fußtrampeln und Pfiffen versetzter Beifall dankt Darstellern und Orchester minutenlang, die Stimmung ist übermütig. Im Theater scheint die Sonne.

Es ist zu wünschen, dass diese Inszenierung nicht komplett eingemottet wird.

Horst Dichanz

 

Fotos 2-6: Oliver Berg