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Fakten zur Aufführung 

LULU
(Alban Berg)
3. Juni 2015
(Premiere am 25. Mai 2015)

Bayerische Staatsoper München


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Und ewig lockt Lulu

Wohin wurde Lulu nicht schon überall versetzt. Auf die Straße, natürlich ins Bordell, in ein Hotel und quer durch die Zeit als ewiges Thema des lockenden, vernichtenden Weibes. Vargas Llosa machte ein tragisch böses Mädchen aus ihr, und Alban Berg interessierte sich in seiner Vertonung am meisten für das pathologisch Selbstzerstörerische des sinnlich Weiblichen.

In der neuen Münchner Inszenierung von Dmitri Tcherniakov nun verführt keine unschuldige Lolita, kein durchtriebenes Weib, sondern eine angstvolle, zweifelnde und an der eigenen Fraulichkeit Gescheiterte die überforderte und überfordernde Männerschaft und einen im Besonderen. Tcherniakov bleibt dabei seinem dichten, filmischen Stil treu. Nach dem Splitscreen-Spektakel Chowanschtschina und dem Mafiakrimi Simon Boccanegra am Haus liefert er nun ein steriles Kammerspiel mit bedrückender Intimität und seinem Markenzeichen, den sich einbrennenden Erinnerungen aus Bildern der Vergangenheit, ab. Leitmotivisch wie die Musik lässt er Lulus Porträt in fahrigen Umrissen an eine Glaswand malen. Nur Konturen, kein Charakter werden dort angeschlagen und von ihren Liebhabern gefüllt. Das Bildnis wird geschändet, zerstört und neu gezeichnet, genauso wie das junge Liebesding durch ihre Verehrer durchs Leben getrieben wird. Die Umrisse doppeln und vervielfältigen sich im Bühnenaufbau eines Glaslabyrinths, das der Regisseur selbst entwarf und lange Zeit gut funktioniert. In den Zwischenspielen erscheinen parallel agierende Paare in einer kleinen, doch klugen Choreografie von Tatiana Baganova, die gewaltige Szenen einer Liebe darstellen. Sie spiegeln sich in den durchbrochenen Wänden ebenso wie Petrenkos Einsatzbildschirm und sein Arm am Pult. Die Szenerie findet zumeist vor den Wänden statt, das Bild erlahmt schließlich im langen, angehängten dritten Akt von Cerha, der in München zugegeben wird. Auch davor doppeln sich Situationen und Bilder ganz wie Lulus redundante, mörderische Affären. Immer wieder kniet ein Mann in ihrem Schoß. Willen- oder wehrlos liegt Lulu auf dem Rücken. Erst am Ende befreit sie sich von Berg und Wedekind und führt ihre eigene Erlösung herbei, indem sie Jack the Ripper das Messer aus der Hand nimmt und selbst zusticht. Ein verständliche, textlich nicht ganz greifende Regie-Idee, die eine ausweglose Pointe über die Selbstbestimmung einer Frau in den Raum stellt, während die fade Geschwitz, unfreiwillig komisch laut Libretto, das Frauenrecht als nutzlose Alternative studieren möchte.

Ausgezeichnet das Kostümbild: Während die Herren in kühler, eng geschnittener Metallik-Uniform erscheinen und die Statisterie vielfarbig agiert, tritt Lulu in gleißendem Weiß auf, vom blumig engen Abendkleid zum Negligee zu zerfransten Hotpants als Prostituierte. Präzise, ästhetisch und nie überzogen zieht Elena Zaytseva die Protagonisten mit viel szenischem Gefühl an.

Marlis Petersen füllt dieses Kostüm und die leere Hülle ihrer Nelly, Mignon, Eva oder Lulu mit großer Tragik. Eine gewachsene Frau, kein Kindmädchen erlebt hier die Gewalt der Liebe. Am stärksten wächst ihre Titelrolle in den wenigen Momenten der Macht über die verfallenen Männer. Ihr Triumph über Dr. Schön gelingt bravurös und szenisch kammerspielartig. Oft wünscht man sich näher an das verstörende Geschehen, denn Lulu ist eines der wenigen Werke, das so gar nicht in ein großes Haus passen mag. Saalfüllend doch besticht Petersens Sopran mit starken Trillern und potenter Höhe bis an den Rand der Singbarkeit, mit Ausdauer und einer gesungenen Tragik, die sie in ihrem präzisen Spiel wiederholt. Der großen Sängerin merkt man an, dass sie bald das Dutzend an Lulus stimmlich wie akteurisch vollmachen wird. Neben Mojca Erdmann ist Peterson sicherlich die Lulu dieser Tage. Stark an ihrer Seite steht die einzige wahre Liebe, der mörderische Wiedergänger und grobschlächtige Verehrer Schön, der edel und ergreifend von Bo Skovhus gegeben wird. Heldisch, fokussiert und mit starken Spitzen steht er in seinen Verzweiflung über die ewig Verwirrende der Titelpartie in nichts nach. Ebenfalls klar strukturiert und szenisch überzeugend bieder, glänzt Daniela Sindram mit fast unterfordertem Mezzo als Gräfin Geschwitz im Kleid eines dunklen Orlowskis. Höhensicher und sicherlich auch ein prächtiger Makropoulos-Max ist Matthias Klink als Alwa mit Gespür für Bergs komplexe Stimmführung, die gerade im Tenoralen fordert. Aus dem großen, teils aus dem Opernstudio komplettierten Ensemble stechen Martin Winkler als stimmgewaltiger, scharf phrasierender Athlet und mit jugendlichem Elan und spielerischer Präsenz Rachael Wilson unter anderem als Gymnasiast heraus.

Scharf am Pult und anscheinend auf der Suche nach immer komplexeren Herausforderungen, stemmt Petrenko nach Zimmermanns multimusikalischen Soldaten nun Bergs komplexe, mathematisch fordernde Partitur. Petrenko verrechnet sich nicht, die Gleichung mit den Sängern geht auf, ganz nah ist er bei ihnen und behält die breite Besetzung bis ins Detail im Auge. Zwölf Zahlen, zwölf Töne reichen ihm, um selbst im zerfasernden dritten Akt Bergs ursprüngliche Dichte und interpretatorisch eng geführte Musik zu einem überwältigenden bis schockierenden Klangteppich mit vielen Ungelösten auszubreiten.

Dafür erntet er viel Applaus, ebenso wie Peterson. Insgesamt jedoch ist das Publikum erschöpft von vier Stunden Verführung am Abgrund und einer fordernden, wenngleich überzeugenden Lulu, die aufgrund ihrer Dunkelheit nie aus der Zeit fallen wird.

Andreas M. Bräu

 

Fotos: Wilfried Hösl