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Fakten zur Aufführung 

PETER GRIMES
(Benjamin Britten)
2. Mai 2015
(Premiere)

Theater Krefeld Mönchengladbach, Mönchengladbach


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

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Teuflisches Spiel

Peter Grimes ist als eine Figur in die Operngeschichte eingegangen, die als nicht schuldloser Sündenbock herhalten muss, als Spielball der gesellschaftlichen Willkür, als bockiger Träumer, als Opfer des Dorf-Mobbings. Seine ruppige Art, sein unbedachtes und auch gewalttätiges Verhalten verstecken einen sensiblen Menschen, der seinen Geburtsort nicht verlassen möchte, obwohl das ganze Fischerdorf ihn für den Mörder seiner Lehrjungen hält. Er träumt davon, das Meer leer zu fischen, mit dem verdienten Geld ein Haus zu bauen und die verwitwete Lehrerin Ellen zu heiraten. Trotz allen guten Zuredens nimmt er sich wieder einen Lehrjungen aus dem Arbeitshaus, um den sich Ellen hingebungsvoll kümmert – vergebens, denn Grimes misshandelt den Jungen unter dem Druck, möglichst viel zu fischen. Auch der stirbt bei einem Unfall, und Grimes steht kurz davor, gelyncht zu werden, hört aber auf den Rat Kapitän Balstrodes und Ellens, sein Boot auf See zu versenken. Das Leben im Dorf geht weiter. Ohne Peter Grimes.

Regisseur Roman Hovenbitzer geht in seiner Inszenierung eine Deutungsebene höher: Statt sich auf die Konstellation von Schuld, Anklage und Unschuld zu konzentrieren, lässt er einen diabolischen Strippenzieher als die Handlung vorantreibende Kraft auftreten. Mit weißem Gesicht und schwarzem Zylinder schlängelt sich Dr. Crabbe durch die Oper wie ein unheilverkündender, gefallener Engel und genießt sichtlich das Chaos, das er anrichtet. Angelegt ist die Figur schon bei Benjamin Britten und seinem Librettisten Montagu Slater und verweist auf die literarische Quelle der Oper: George Crabbes Briefroman The Borough inspirierte Britten zu seiner ersten Oper. Und das ist nicht alles, denn der Autor taucht im Libretto als stumme Rolle des Dr. Crabbe auf. Er wird hin und wieder von der Dorfgesellschaft angesprochen, ohne jemals zu antworten. Eine großartige Vorlage für Interpreten. Hovenbitzer verknüpft die Figur des Doktors, der die Dorfbewohner nach seinen Anweisungen wie Puppen tanzen lässt, mit einem mephistophelischen oder gespenstischen Aspekt. So ganz kommt man nicht dahinter, wie bewusst sich die Dorfbewohner dieser Manipulation sind. Und hier kommen wir zum zweiten Deutungsansatz, dem englischen Puppentheater Punch and Judy, das dem deutschen Kasperletheater ähnlich ist. Punch ist ein gewalttätiger Charakter, der alle tötet, die ihm im Wege sind, einschließlich seinem eigenen Kind und seiner Frau Judy. Die Dorfbewohner machen Grimes gleich zu Beginn in der Gerichtsverhandlung zu ihrem persönlichen Punch und setzen ihm die Kasperlemütze auf. Grimes wird dabei nicht in den Zeugenstand gerufen, sondern muss sich in eine Holzkiste stellen, deren rote kleine Vorhänge sie als Puppentheater auszeichnen. Als festes Element zieht sich die Kiste durch die Oper, ersetzt mal das Schiff Grimes, mal muss Ellen darin büßen. Die übrigen Dorfbewohner qualifizieren sich als dankbares Publikum, das sich an den grausamen Geschichten des Puppentheaters ergötzt, sich sogar selbst in übergroße Puppen verwandelt und mit Pritschen auf Grimes einprügelt. Crabbe scheint dabei die Fäden zu ziehen, omnipräsent lenkt er hämisch lachend Peter Grimes‘ Schicksal.

Die Kostüme von Magali Gerberon unterstützen Hovenbitzers Regieansatz auf vielfältige Weise: Zum einen arbeiten sie die Charaktere bis auf das Genaueste heraus – wie beispielsweise bei der pedantischen und tantigen Ms Sedley und etwas überspitzt auch bei den beiden Dorfprostituierten, die in Schulmädchenuniform und den obligatorischen Strapsen über die Bühne hüpfen müssen; dass ihre „Tante“, die Wirtin des Pubs, mit Animalprint und roten Haaren daher kommt, versteht sich schon fast von selbst. Zum anderen wird die phantastische Komponente des Puppenspiels klar, wenn die gesamte Dorfgemeinschaft in clownesken bis karnevalesken Kostümelementen und Pritschen in der Hand gegen Grimes vorrückt. Gerberon hat es verstanden, vor allem detailgenau zu arbeiten – die Inszenierung gewinnt dadurch sehr.

Roy Spahn, den Bühnenbildner des heutigen Abends, hat heute nicht nur das Premierenfieber gepackt, es ist gleich eine ganze Grippe – technische Probleme in der Elektrik lassen im zweiten Teil der Oper einen wichtigen Teil seines Bühnenbildes nicht herunterfahren, und es muss in der Pause umgeprobt werden. Trotz dieses Alptraums für jeden Theatermacher funktioniert seine Bühne mehr als gut – das Publikum vermisst in Unkenntnis des Fehlenden die Hütte Grimes‘ nicht, die Bühne funktioniert auch als abstrakterer Raum. Spahn arbeitet mit viel Holz: Wände aus Holzplatten rahmen die Bühne ein und dienen sowohl als Meer, das als Projektion die Wellenbewegungen auf die Bühne bringt, als auch als voyeuristisches Element für die Dorfbewohner, die sich in einem auftuenden Spalt wie in einem nicht enden wollenden Fenster auf die Brüstung lehnen und das Spektakel beobachten. Eine Erweiterung des Puppenspiels sind die Häuser des Dorfes, die als mobile Miniatur-Puppenhäuser eingesetzt werden, so wird unter anderem die Kirche ins Bild getragen und verortet sich so selbst.

Die Gesamtinterpretation des Regieteams ist stark, das muss erst mal funktionieren. Und sie funktioniert – wenngleich sie sich erst im Laufe der Handlung manifestiert. Zu Beginn wirken nicht nur die einzelnen Figuren des Dorfes überzeichnet, auch die Interpretation wirkt zunächst wie übergestülpt, die Handlungen auf der Bühne zu angedeutet, nicht nur das Mutter-Theresa-Tuch, in das sich Ellen wie zum Zeichen ihrer Unschuld hüllt, ist etwas zu viel. Doch die aussagekräftige Musik Brittens geht zum Gewinn aller eine Symbiose mit der Bühnenhandlung ein. Vor allem die ruhigen, emotionalen Momente gelingen so stark, dass kleine Schwächen schnell vergessen sind.

Aber die eigentliche Stärke des Abends liegt in der Musik. Angefangen beim Chor, der unter der Leitung von Maria Benyumova vorzüglich singt und punktgenau einsetzt, über die hervorragenden Sängerdarsteller bis hin zu den Niederrheinischen Sinfonikern, die sich zum Hauptdarsteller der Oper mausern. Generalmusikdirektor Mikhel Kütson leitet das Orchester mit fester, aber sensibler Hand. Was dabei herauskommt, kann sich mehr als hören lassen – subtil in der Begleitung, bildgewaltig und schlichtweg ergreifend in den symphonischen Zwischenstücken; klare Bläser und starke Streicher erzählen heute mehr als jeder Firlefanz auf der Bühne: Hier passiert echtes Musiktheater im Graben.

Sängerisch kann man mehr als zufrieden sein. Heiko Börner schafft in der Titelpartie des Peter Grimes nicht nur gesanglich, große Facetten zu zeigen, sondern kann dem schwierigen Charakter auch darstellerisch alles abgewinnen und seine Zerrissenheit glaubwürdig und anrührend vermitteln. Stimmlich reicht es von dramatischen Ausbrüchen, die hin und wieder etwas angestrengt wirken, bis zu den ganz leisen und sensiblen Momenten. Hut ab vor dieser Leistung. Izabela Matula gilt als Publikumsliebling und wird dem am heutigen wieder gerecht. Auch wenn ihr Spiel zunächst etwas pathetisch wirkt, singt sie sich mit ihrem ausdrucksstarken und variablen Sopran, der unglaublich lang auch in den leisen Passagen trägt, als Ellen Orford in die Herzen der Zuschauer. Johannes Schwärsky freut sich darüber, endlich mal nicht den Bösewicht zu mimen. Heute gibt er Kapitän Balstrode, sozusagen das gute Gewissen des Dorfes. Und das ist er tatsächlich: Mit spürbarer körperlicher Präsenz, seinem darstellerischen Talent und seiner einzigartigen Stimmfarbe will man ihn auf keinen Fall missen. Eva Maria Günschmann muss zwar ein schwieriges Kostüm tragen, aber das gelingt ihr mit Würde und mehr noch: Souverän nimmt sie ihre Rolle an und kann stimmlich überzeugend von kalt auf warm schalten. Ihre beiden „Nichten“, Sophie Witte und Gabriela Kuhn, müssen zwar etwas zu überkandidelt spielen, doch im emotionalen Quartett mit Ellen und ihrer Tante dürfen sie auch anders, und das kommt gut an. James Park als einziges Mitglied des Opernstudios Niederrhein, kann als in seinem Glauben gefangener Methodist und als Fischer eine gute Figur machen, auch stimmlich ist der junge Tenor eine Bereicherung. Matthias Wippich als Fuhrmann hat zwar nur eine kleine Partie, lässt aber mit angenehmem Bass aufhorchen. Gundula Schneider als Ms Sedley wird ihrer Rolle als Möchtegern-Agatha-Christie gerecht. Michael Siemon als wollüstiger Pastor Adams, Rafael Bruck als findiger Apotheker Ned Keene und Andrew Nolen als schmieriger Swallow sind passend besetzt und lassen keinen Wunsch offen. Auch die beiden stummen Rollen tragen viel zum Gelingen des Abends bei. Jonas Trebo als Lehrjunge zeigt darstellerischen Mut und rührt mit seinem Spiel, Tobias Forstreuter als gelassener und fieser Dr. Crabbe kann ebenfalls großen Applaus einheimsen.

Das Publikum lässt sich von dieser nautischen Oper bewegen und ist gleich dem Meer mal ruhig und verdienterweise stürmisch am Ende. Ein langer Applaus mit teils stehenden Ovationen zollt den Künstlern und dem Regieteam den verdienten Respekt.

Miriam Rosenbohm

 







Fotos: Matthias Stutte