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Fakten zur Aufführung 

BALLHAUS
(Steffen Mensching)
25. Januar 2015
(Premiere)

Theater Krefeld Mönchengladbach, Mönchengladbach


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

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Leider nicht ohne Worte

1981 inszenierte Jean-Claude Penchenat am Théâtre du Campagnol nach einer eigenen Idee Le Bal. Theater auf großer Bühne mit großer Besetzung ohne Sprechrollen, dafür mit viel Musik und Tanz. Erzählt wird eine Geschichte von menschlicher Einsamkeit, nicht funktionierendem Opportunismus und Duckmäusertum, von den großen und kleinen historischen Irrtümern des 20. Jahrhunderts. Das Konzept ist so eindrucksvoll, dass bereits zwei Jahre später Ettore Scolas Film Le Bal – Der Tanzpalast in die Kinos kommt. Das Drehbuch stammt von Penchenat – die Handlung puristischer, existenzialistischer und noch erfolgreicher von vielen Schauspielern des Théâtre du Campagnol besetzt. Der Film wird mehrfach preisgekrönt. „Bei Le Bal habe ich drei Themen, die mich interessieren, vereint: Die Zeit, die Einsamkeit und die persönliche Geschichte“, erzählt Scola.

Steffen Mensching ist das, was man früher einen Tausendsassa oder Hansdampf in allen Gassen nannte. Aufgewachsen im Berlin der Deutschen Demokratischen Republik, studierte er Journalistik und Kulturwissenschaften. Wurde Kabarettist – er selbst sagt Clown – Schriftsteller, Filmemacher, Regisseur, Schauspieler und ist seit sieben Jahren Intendant am Theater Rudolstadt. Für das Theater Krefeld Mönchengladbach hat er Le Bal neu interpretiert und Das Ballhaus daraus geschaffen. Er hält an der „Stummfilm-Version“ fest, verlegt aber die Handlung in das Deutschland von 1920 bis zur Gegenwart und versucht, sämtliche Ressourcen des Theaters zu sprengen. Regisseur Frank Matthus ist Menschings Bruder im Geiste und weicht von der französischen Vorlage ab, indem er Humor bis Klamauk zulässt – vielleicht ist mancher Moment der deutschen Geschichte nicht anders zu verarbeiten. Und Matthus ist nicht der einzige, der sich von Menschings Idee anstecken lässt. In Zeiten, in denen uns viele Theatermacher weismachen wollen, dass der Minimalismus die Fantasie im Zuschauer erst richtig anstachele, baut Johanna Maria Burkhart eine große – und großartige – Bühne. Herzmuschel-Lampen an der Rampe, rechts die Sitzgruppen für die Tänzerinnen und Tänzer, links die typische Bar und im Hintergrund Treppen, die den großen Auftritt erlauben, aber auch die Abgänge durch Toiletten- oder Schwingtüren nach außen ermöglichen. Auf dem oberen Podest ist Platz für die Band, für den Tisch des Schriftstellers, über dem die Disco-Kugel schwebt, und eine Wurlitzer-Musikbox. Das Publikum staunt, und jeder, der einmal eine Tanzschule besucht hat, fühlt hier gleich Erinnerungen wachgerufen. In dieser zeitlosen atmosphärischen Dichte darf alles, was das Ensemble und die Statisterie im Theater aufzubieten hat, in den Kostümen von Yvonne Forster auftreten. Für manchen bedeutet das an diesem Abend bis zu 30 Kostümwechsel. Kostümwechsel, die den Zeitläuften angepasst sein sollen, was überwiegend gelingt. Zwischenzeitlich eingeblendete Projektionen unterstreichen mehr oder weniger gekonnt die zeitlichen Übergänge.

Für Schauspieler und Statisten bedeutet der Abend überwiegend Tanz. Eine Bewegungsform, die nicht zwingend in das Repertoire eines Bühnenakteurs gehört. Und so haben sich die Schauspieler im Vorfeld in die erfahrenen Hände der Tanzlehrer Kostorz aus Krefeld begeben, um die Figuren und Bewegungen von Polka, Walzer, Schieber, Tango bis hin zu verwegener Rock’n’Roll-Akrobatik zu beherrschen. Herausgekommen ist dabei eine wunderbar glaubwürdige Mischung aus „Profis“, die im Rock’n’Roll Überschwünge präsentieren bis zu den Amateuren, die den Foxtrot im Grundschritt absolvieren. Herauszuheben ist aus der Schauspielermenge keiner – jeder einzelne überzeugt im Kollektiv. Eine Sonderrolle nimmt Paul Steinbach ein, und der verdient mit Sicherheit besonderes Lob. Selten hat man jemanden so viel auf der Bühne arbeiten sehen wie diesen Kellner, der über Jahrzehnte bedient, Streit schlichtet, die Spuren von Festen beseitigt und völlig unbeeindruckt von den Geschehnissen bleibt. Danke.

Dass Mensching und Matthus so gar keine Stellung beziehen, manches Mal die Komik ein wenig übertreiben, bleibt ein Wermutstropfen ebenso wie das Publikum, das mit der Aufführung vollkommen respektlos umgeht. Allüberall ist Gequatsche zu hören, zweieinhalb Stunden lang. Das mag daran liegen, dass so viele Assoziationen ausgelöst werden, aber ist das wirklich Grund, die besondere, „stumme“ Stimmung auf der Bühne ständig mit den eigenen „wichtigen“ Informationen aufzulösen? Reicht es wirklich nicht, anschließend seinen Sermon in den so genannten sozialen Netzwerken abzuseihen?

Gut, dass es die Musik gibt. Dann ist einen Moment Ruhe im Saal. Oft genug wird sie aus der Konserve eingespielt, aber wenn Jochen Kilian, Bernd Kullack und Bernd Zinsius live aufspielen, der Schauspieler oder die Schauspielerin zum Mikrofon greifen, um einen Hit zu trällern, hat das doch noch einmal eine andere Qualität.

Wie es mit der deutschen Gesellschaft im Zeitalter der meistenteils sinnentleerten Smartphone-Sabbelei weitergeht, weiß auch Matthus nicht und endet im Unbestimmten. Aber wen interessiert das? Längst wartet das Publikum darauf, endlich aufspringen zu dürfen, um diesen eindrucksvollen Abend mit stehenden Ovationen zu feiern. Uneingeschränkt und langanhaltend.

Michael Grosse, Intendant des Theaters, vollbringt in Krefeld und Mönchengladbach etwas, auf dass die Intendanten in Deutschland schauen können: Obwohl ihm gewiss nicht mehr Geld als den anderen Häusern zur Verfügung steht, gibt es am Niederrhein permanent neue, fantasievolle und einfallsreiche Aufführungen, ganz ohne Koproduktionen oder Übernahmen. Das müssen dem Typen, der am liebsten in Jeanshemden und möglichst unprätentiös auftritt, erst mal all die nachmachen, die in vorauseilendem Gehorsam längst das Denken eingestellt haben.

Michael S. Zerban







Fotos: Matthias Stutte