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Fakten zur Aufführung 

MADE IN BANGLADESH
(Helena Waldmann)
19. Oktober 2015
(Einmaliges Gastspiel)

Forum Leverkusen


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Was wir wollen

Als in Bangladesh im April 2013 die Textilfabrik Rana Plaza einstürzte, ging ein Aufschrei durch Deutschland und spülte ein Thema hoch, das die deutsche Moral ordentlich ins Wanken brachte. Scheinbar menschenunwürdige Bedingungen bei der Textilproduktion in Bangladesh sorgten dafür, so war all überall zu lesen, zu hören und zu sehen, dass die Menschen im reichen Deutschland viel zu billige Kleidung kaufen, also die Ausbeutung unmittelbar unterstützen. Schnell wurden Warenhausketten als Täter ausfindig gemacht, in denen die Jugend die billige Wäsche gleich kiloweise einkaufte. Wie geht der verantwortungsbewusste Konsument in Deutschland mit solchen „Informationen“ um? Er boykottiert solche Produkte, um sich nicht an der Ausbeutung mitschuldig zu machen.

Und wie immer in solchen Fällen gibt es deutsche Journalisten, die vor Ort die unmenschlichen Bedingungen aufdecken – nachdem die Diskussion entbrannt ist – und zeigen, dass alles eigentlich noch viel schlimmer ist als bisher bekannt. Und oft gibt es dann auch Künstler, die sich dieser Themen annehmen, um daraus neue Stoffe für ihre Arbeit zu entwickeln. Die Choreografin Helen Waldmann reiste nach Bangladesh, suchte dort zwölf Tänzerinnen und Tänzer und führte mit ihnen Gespräche mit den Textilarbeiterinnen. Heraus kamen dabei die erwartbaren Zitate wie „Diese Arbeit ist die reine Ausbeutung“, während über den Fabriken Fahnen mit der Aufschrift „We are happy“ wehten. Aber Waldmann bekam auch eine ganz andere Geschichte erzählt.

Die Geschichte von der Angst der Arbeiterinnen, die sich in die Trauer um ihre Kolleginnen mischte, die übrigens nicht an den Folgen ihrer Arbeit, sondern aufgrund baulicher Mängel starben. Die Frauen in den Fabriken bekamen Angst, als sie davon erfuhren, dass die Menschen in Europa ihre Produkte boykottieren wollten. Ihre Arbeit, ihre Existenz geriet in Gefahr. Plötzlich drohte das Nichts.

Waldmann kehrte nach Deutschland zurück und entwickelte Made in Bangladesh, ein politisches Tanztheater mit Kathak-Tänzerinnen, das am 24. November vergangenen Jahres im Theater im Pfalzbau Ludwigshafen zur Uraufführung kam. Kurz gesagt: Helena Waldmann hat ein Meisterwerk erschaffen.

Beginnend mit dem Kathak, den sie aus der folkloristischen Ecke herausholt, den Solisten ihre bis zu 150 Glöckchen von den Fußgelenken entfernt und sie als Rhythmus-Gruppe auftreten lässt. Mehr noch: Puristisch reduzieren die Choreografin und ihr Co-Choreograf Vikram Iyengar die möglichen Figuren des Tanzes auf Fuß- und Armarbeit sowie Pirouetten. So erreichen sie aberwitzige Tempi, die die Arbeitsgeschwindigkeit von Näherinnen und Garnwinden verbildlichen. In einer guten Stunde erzählen die beiden zwei Geschichten. Die eine von den Näherinnen von Bangladesh, die sich „selbstausbeuterisch“ ein kleines Stück Freiheit in Form finanzieller Unabhängigkeit erarbeiten, und eine andere von den Tänzerinnen und Tänzern, die in einem immer größer werdenden Markt mit immer niedrigeren Gagen zu kämpfen haben. Ein Kampf, den sie nur durch immer mehr Auftritte glauben, gewinnen zu können.

Das System des Kapitalismus funktioniert nicht. Das ist keine neue Erkenntnis, aber sie wird immer klarer. Nicht nur die Tänzer müssen immer häufiger prekäre Lebensverhältnisse in Kauf nehmen. Auch Künstler anderer Gattungen sind ebenso betroffen wie die Journalisten, die über ihre Arbeit berichten. Was aber ist besser an einem Land, das seine Kultur abschafft, im Vergleich zu einem Land, in dem die Menschen mindestens ebenso hart für ihr Einkommen arbeiten müssen und dabei von Fragen wie der Selbstverwirklichung weit entfernt sind?

Waldmann wird laut. Aus den Boxen wummern die Kompositionen von Daniel Dorsch und Hans Narva, unterstreichen die Rhythmik des Stampfens. Im Hintergrund sind Videos von Anna Saup zu sehen, in denen die Zitate der Arbeiterinnen zu lesen sind, die Stundenziele in den Fabriken wie der Umstand, dass die Arbeiterin in der Zeit der Aufführung ein paar Cent verdient hat, während in Deutschland damit annähernd anderthalb Millionen eingenommen werden. Das alles eingetaucht in ein sehr präzises Licht von Herbert Cybulska, das nicht nur beispielsweise die Füße in den entscheidenden Situationen fokussiert, sondern auch eine Dramatik hervorruft, die den Gegensatz verschärft zwischen den folkloristischen Kostümen und den von westlichen Einflüssen geprägten Kleidern, die Hanif Kaiser und Judith Adam entwickelt haben. Plötzlich Stille. Eine Tänzerin in der Mitte der Bühne, die in der Aktion verharrt. Hinter ihr auf der Video-Leinwand ein Appell.

„Boykottiert nicht unsere Produkte.“

Waldmann bringt Lebenssituationen miteinander in Verbindung, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben. Und sie reflektiert das, indem sie die Choreografie der zweiten Hälfte spiegelbildlich tanzen lässt. Am Ende des Abends ist klar, dass sich die Tänzer verausgabt haben in Tanz und Chorgesang. Und das nahezu vollbesetzte Auditorium erschöpft ist ob einer Intensität, die man nur noch selten erlebt. So fällt der Beifall herzlich und bündig aus.

Michael S. Zerban

 

Fotos: Wonge Bergmann