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Fakten zur Aufführung 

GIOVE IN ARGO
(Domenico Scarlatti)
19. Oktober 2014
(Premiere)

Erholungshaus, Leverkusen


Points of Honor                      

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Gesang

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Götter-Händel in der Abfertigungshalle

Catch Me If You Can , die Ganovenkomödie von Steven Spielberg aus dem Jahr 2002, spielt über weite Strecken im Milieu von Fluggesellschaften und Airports. Leonardo DiCaprio gibt in einer seiner Paraderollen den Betrüger und Hochstapler Frank W. Abagnale. Mit Eleganz und Lässigkeit legt er in der strahlend weißen Uniform des Chefpiloten reihenweise Geschäftsfreunde herein, wenn er nicht mit der Verführung von diversen Flugbegleiterinnen beschäftigt ist. Vergleichbares ist im Erholungshaus in Leverkusen zu erleben. Götter-Händel dank Händel. Hier agiert der Tenor Krystian Adam als Arete mit markanter Sonnenbrille in ähnlich blendender Aufmachung. Giove, also Zeus, beliebt es, in dieser Aufmachung sein frivoles Spiel mit den Erdbewohnern zu treiben.

Die vom Regisseur Kay Link und der Ausstatterin Olga von Wahl gewählte Kulisse folgt der Idee. Ein Flughafenterminal ist die Szene für das Treiben von Gott und Mensch. Im vorderen Bühnenbereich markieren Absperrungen die nüchterne Funktionalität von Abfertigungsschaltern, die so heißen, wie sie wirken. Auf dem Bühnenhintergrund sind allerlei Flugzeuge sowie eine Start- und Landebahn zu sehen. Bewegung ist hier nirgends. Ein simulierter Videoscreen soll Ankunft- und Abflugzeiten der aktuellen Flüge anzeigen. Die Daten allerdings sind wie eingefroren. Auf diesem Flughafen gibt es nichts als Stillstand ohne Entrinnen. Arkadien einst, Hellas heute, im Mahlstrom der Folgen der Eurokrise – das ist kein Ort, der zum Verweilen einlüde. So irren die Protagonisten denn auch planlos durch die Szene. Eigentlich hübsch sind sie anzuschauen, die Flugbegleiterinnen in ihren stilechten Kostümen, doch eher in ihrer Ausweglosigkeit zu bedauern. Vom Gepäckband purzeln Roll- und andere Koffer, dann gar veritable Menschen, die entweder den getöteten König beerben oder rächen wollen. Im Verlauf des Geschehens erweist sich, dass ein solches Band auch für Erotisches geeignet zu sein scheint. Wo die Groteske herrscht, ist eben das Komische nicht weit.

Im ersten und im letzten der drei Akte spielt Georg Friedrich Händels Semi-Pasticcio Giove in Argo im Wald und auf des Berges Höhe. Von Arkadien aber auch hier keine Spur. Hingegen mancherlei poppig Unterhaltsames, was einmal mehr Links Faible und Gespür für sprühende Ideen und pointierte Situationskomik im Tandem mit der Ausstatterin beweist. Mit wenigen Requisiten werden die Schönheiten und Qualen einer Gebirgslandschaft zur Ahnung gebracht. Könnte sich nicht jeden Moment ein Reinhold Messner oder der Anführer einer kletternden Touristengruppe aus dem aufgestellten knallblauen Biwak-Zelt herauslavieren? Tatsächlich muss sich das Publikum mit royalen Karrieristen oder weniger noblen Verlierertypen begnügen, die der Macht, dem Geld oder den schönsten Jungfrauen der Gegend hinterherjagen. Kein Zweifel, Links Inszenierung einer echten Händel-Trouvaille aus den letzten Jahren des Londoner Opernunternehmers steht für Schwung und Unkonventionelles, für Abwechslung und jede Menge Spaß, ungeachtet des eher schaurigen Sujets.

In dieser Ausrichtung steht die Koproduktion von l’arte del mondo und den Händel-Festspielen Halle, bei denen sie im Juni im historischen Theater zu Bad Lauchstädt drei Mal gegeben wurde, dem Schöpfer der Komposition praktisch nicht nach. Um 1739 ist der Stern des lange Zeit ungekrönten Königs der italienischen Oper in London drastisch gesunken. Händel braucht neue Attraktionen für den musikalischen Unterhaltungsbetrieb eines so launenhaften wie unersättlichen Publikums. Er rivalisiert mit dem neu entstandenen King‘s Theatre um Aufführungen, Besucher und die immer teurer werdenden Sängerstars. Der Mezzo-Kastrat Senesino, sein Aushängeschild und Kassenmagnet in Hits wie Giulio Cesare und Riccardo Primo, ist erst zur Konkurrenz übergelaufen und dann in seine Heimat, nach Italien, geflüchtet. In der kniffligen Situation, eine Zusage über ein neues Werk gegenüber dem King’s Theatre kurzfristig erfüllen zu können, verlegt sich Händel auf etwas Pragmatisches: die rasch machbare Schöpfung eines Mixtum compositum im Genre des populären Schäferstücks.

Kaum ein zweiter bietet sich wie Jupiter/Zeus/Jove für einen Stoff über erotische und andere im glimpflichen Falle göttliche Eskapaden an, die schon per se ihr Publikum und ihre Regisseure zu finden pflegen. Auf ein ihm geläufiges Libretto richtet Händel Bravourstücke seiner zuvor erfolgreichen Opern mit einigen neuen Arien sowie ariosen Dreingaben des Italieners Francesco Araja, dem Hofkompositeur der russischen Zarin, zu einem lukullischen Drei-Gänge-Menü an. Manches ist plötzlich neu, so die Rolle des Chores, dem er – ein Vorgriff auf die kommenden Jahre mit dem Akzent auf das Oratorium – Gewaltiges zu singen in die Partitur schreibt. So das Fehlen jeglicher Kastraten- oder Hosenrollen aus dem skizzierten Grund. So das Alleinstellungsmerkmal im Musiktheater Händels, die Besetzung aller männlichen Hauptpartien ausschließlich durch tiefe Männerstimmen. Eine Rarität, fürwahr.

Händels verzweifeltes Ringen um die Akzeptanz des verwöhnten Londoner Opernpublikums bleibt letztlich erfolglos. Das Werk fällt durch und erlebt gerade noch eine zweite Aufführung. Teile der Komposition gelten in der Folgezeit als verschollen. Erst als diese 2001 wieder gefunden werden, wird aus der Idee einer Rekonstruktion 2007 Wirklichkeit. Zu verstehen ist die damalige Zurückweisung der barocken musikalischen Galanterie durch das Publikum wohl einzig im historischen Kontext eines Strukturwandels der Oper in den europäischen Kulturzentren.

Werner Ehrhardt und das Ensemble l’arte del mondo, orchestra in residence, sind, zumindest in NRW, ein Leuchtturm der historisch geprägten Interpretation speziell von Opern der Barockzeit. Wie die 21 Musiker unter seiner musikalischen Leitung in enger Tuchfühlung mit den Aktionen der Handelnden auf der Bühne dem pastoralen Vexierspiel Feuer und Leben einhauchen, ist vom Feinsten. Nicht wenige unter ihnen sind ja ausgesprochene Spezialisten auf ihren Instrumenten und jederzeit in der Lage, alle Stimmungen einer komplexen Partitur hervorzuzaubern. Bei Giove in Argo sind diese pastellfarben in den lyrischen Momenten, rau und knarrend-herb in den profan-zerstörerischen, wie sie bravourös Ioannis Babaloukas mit seinem Kontrabass hervorzubringen versteht. Das Vokalensemble darf zudem einen ganz großen Bogen spannen, die Sehnsucht nach dem Frieden, später die Freude an der Jagd und am Leben überhaupt besingen. All das vollbringt es mit hoher Intensität und Vehemenz. Sein großes Können zeigt sich insbesondere in der Passage, als die Einsätze der Stimmgruppen solistisch intoniert werden.

Format haben die Gestalter der Titelpartien allemal. Raffaella Milanesi ist eine Iside, die die Zerrissenheit ihrer Figur zwischen der leidenschaftlich Begehrenden und der von Hass getriebenen Guerillakämpferin mit hoher Kunst zu interpretieren versteht. „Ich lebe die Qual. Das Leben ist mir der Tod“, heißt es sinngemäß und exemplarisch in ihrem Text. Ihr Sopran, ins Mezzo-Fach changierend, hat Volumen und die robuste Tiefe bei Wahrung der Höhe, die diese Partie verlangt. Die Italienerin knüpft damit eindrucksvoll an ihre Kunst in der Partie des Sesto im Titus von Christoph Willibald Gluck an, dem Ehrhardt im November 2013 im Erholungshaus zu einer beachteten Renaissance verholfen hat. Natalia Rubis als Calisto, ein Hingucker in knallrot als Marylin-Monroe-Ikone, imponiert auch sängerisch in dem Maße, wie ihr das Stück Gelegenheiten zu brillieren gibt. Und davon gibt es reichliche. So gesehen und vielleicht schon bei Händel so bedacht, ist es kein Zufall, dass sie das einzige Duett des Stücks gemeinsam mit Arete ergattert. Krystian Adams Tenor ist ihrem Sopran mehr als ein ebenbürtiges Gegenüber. Seine steile Karriere seit seinem Debüt als Graf Almaviva in Rossinis Il Barbiere di Seviglia scheint nur eine Richtung zu kennen, die nach oben. Adam reizt seinen Part im Duett mit der Verführungskraft aus, die der Göttervater in die Waagschale wirft, um seine Liebeshändel zu vollenden.

Mit vokaler und spielerischer Freude erfüllen die übrigen Sänger mehr als ihr Soll, die Sopranistin Barbara Emilia Schedel als Diana und die Bässe Johan Rydh als arkadischer Tyrann Licaone sowie Thilo Dahlmann mit der Figur des Erasto, hinter dem sich kein Geringerer als der König Ägyptens verbirgt. Ein Sonderlob gebührt Winfred Wehrhahn in der Rolle oder/und Funktion des Souffleurs. Schon früh von Licaone dahingemeuchelt, liegt er vorn am Bühnenrand mehr als eine lange Stunde völlig reglos schon vor der Pause. Um sich sodann, im letzten Akt, noch einmal aufzuraffen und sich schlussendlich als Geist seiner selbst zu erheben.

Die Barockoper hat in der Leverkusener Stückeplanung einen respektablen Stellenwert. 2013 an der Schwelle zum Gluck-Jahr der Titus, nun die formidable Renaissance einer Händel-Kostbarkeit. Auf die neuerliche Händel-Oper im Dezember, dann Rinaldo, darf man schon jetzt gespannt sein, auch wenn sie aus einer anderen Barockwerkstatt kommen wird. Maßstäbe sind gesetzt. Dafür bedankt sich das Leverkusener Publikum bei allen Künstlern mit anhaltenden, für Momente gar euphorischen Beifall, allen voran Ehrhardt und seinen Könnern. Ein bisschen Servicehätte der Sache mehr als gut getan. Weder reichten die ausgelegten Programmhefte von den Händel-Festspielen Halle noch die aktuellen Besetzungszettel. Selbige gab es auch nicht als Aushang für ein Publikum, das doch einfach wissen will, wer denn – anders als in Halle – diese famose Iside des Abends war. Schade.

Ralf Siepmann

Fotos: Tilmann Graner