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Fakten zur Aufführung 

ANATEVKA
(Jerry Bock)
28. April 2015
(Einmaliges Gastspiel)

Forum Leverkusen


Points of Honor                      

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Armes Anatevka

Die überwiegend älteren Menschen pilgern zum Forum, um den Saal bis nahezu auf den letzten Platz zu füllen. Sie wollen in die Vergangenheit eintauchen, um dem sensationellen Erfolg der Uraufführung vom Fiddler on the Roof am 22. September 1964 am Broadway oder der unvergessenen Verfilmung von Norman Jewison aus dem Jahr 1971 mit Chaim Topol als Tevje nachzuspüren. Sie wollen sich noch einmal in die jüdische Lebenswelt des Schtetl Anatevka in Russland um 1905 hineinversetzen.

Das Musical, zu dem Joseph Stein das Buch, Jerry Bock die Musik und Sheldon Harnick die Gesangstexte beigesteuert haben, bietet vielerlei Ansatzpunkte für eine aufregende Inszenierung. Das Landestheater Detmold, dessen Auftrag es ist, die Menschen in der Fläche mit Theater zu versorgen, und das an diesem Abend Anatevka aufführt, macht das nicht ehrenamtlich, sondern bekommt dafür gutes Geld. Es repräsentiert damit nicht nur sich selbst, sondern auch die Spielstätten, an denen es engagiert wird. Dieser doppelten Verantwortung wird es in Leverkusen zumindest nicht gerecht. Und damit zählt auch der Schaden gleich doppelt.

Niemand Geringeres als die Schauspieldirektorin des Landestheaters Detmold, Tatjana Rese, zeichnet für die Inszenierung von Anatevka verantwortlich. Sie entscheidet sich für eine maximal konservative Aufführung. Die Tradition soll im Vordergrund stehen. Pia Wessels unterstützt sie in Bühne und Kostüm. Da steht eine Bretterwand kreisförmig auf der Bühne, die mal den Dorfplatz, mal das Haus Tevjes, mal die Synagoge und so weiter darstellt. Um die verschiedenen Örtlichkeiten zu verdeutlichen, werden unterschiedliche Requisiten hereingeschoben. Das funktioniert in weiten Teilen gut. Das umfangreiche Personal ist mit Kostümen und vor allem typisierenden Merkmalen jener Zeit ausgestattet. Wer sich das Konzept Tradition auf die Fahnen schreibt, ist damit auch allemal gut bedient. Eigens für die Choreografie bestellt, werden die Einflüsse von Richard Lowe nicht wirklich deutlich. Die Ideen zum Licht erschöpfen sich bei Helge Schiller im Wesentlichen darin, dass es vorhanden ist, wenn man vom Schlussbild absieht.

Das alles könnte in Ordnung gehen, wenn das Ensemble nicht wäre. Eine glatte Fehlbesetzung ist die wichtigste Person des Stücks, der Milchmann Tevje. Roland Wagenführer ist kein Tevje. Die schiefgesungenen Töne – geschenkt. Schließlich haben auch viele Besucher sich trotz schwerer Erkältung zur Veranstaltung geschleppt. Aber Wagenführer spielt, und das ist in jeder Szene spürbar. Er weiß nichts von den Gefühlsnöten des gläubigen Vaters. Er kennt nichts von den notwendigen Kompromissen eines jüdischen Milchmanns im Schtetl. Und sein „Gott sei mit dir“ in der Verabschiedung seiner Tochter Chava, die er möglicherweise in diesem Leben nicht mehr sehen wird, ist hundserbärmlich egal interpretiert. Golde, seine Frau, angekündigt war Brigitte Bauma, wird von Silke Dubilier gegeben, die entweder zu wenig Zeit zum Proben hatte oder von der Regisseurin im Stich gelassen wurde. Zahlreiche Misstöne sind überflüssig, noch ärgerlicher ist allerdings die Gleichgültigkeit, mit der sie die Liebesszene mit Tevje zerstört. Und das Schultheater geht munter weiter. Franziska Ringe versucht sich an Zeitel, Tevjes ältester Tochter. Die erschien Rese offenbar als nicht so wichtig. Und so ist das Opernstudio-Mitglied häufig nur Anhängsel, bleibt ein Profil schuldig. Ebenso blass bleibt Kirsten Labonte, auch Opernstudio-Teilnehmerin, als Chava. Es ist legitim, die Nachwuchstalente auf Tournee zu schicken – wenn sie ihren Rollen gewachsen sind. Heiratsvermittlerin Judith Pfistner arbeitet anscheinend als Einspringerin. Das jedenfalls würde die Texthänger von Jente erklären. Warum Klaus Belzer einen albernen Rabbi abgeben muss, erschließt sich nicht, aber das macht er gut. Die wenigen Lichtblicke wie Katharina Ajyba als Hodel, die erstmals so etwas wie Gesang erstrahlen lässt und eine schöne Unbekümmertheit demonstriert, oder Kevin Dickmann, der als Mottel Kamzoil eigentlich die glaubwürdigste Rolle spielt, bleiben die Ausnahme und reichen nicht. Wenigstens der Chor ist von Marbod Kaiser gut einstudiert und erfüllt seinen Dienst. So wird das Stück emotional ohne Höhen und Tiefen abgespult.

Die musikalischen Anforderungen sollten keinen Dirigenten überbeanspruchen, und so absolviert Matthias Mönius mit dem Symphonischen Orchester einen ordentlichen Dienst. Wojciech Wieczorek bringt als Fiedler ein glaubhaftes Stück jüdisches Lebensgefühl auf die Bühne.

Das Publikum, das eher automatisiert zu einzelnen Gesangsstücken applaudiert, ist nach dem ersten Vorhang mit den ohnehin mäßigen Ovationen fertig, nachdem zahlreiche Personen gleich nach dem – eindrucksvollen – Ende den Saal verlassen. Im Foyer entschuldigt sich das eine Ehepaar beim anderen für die Einladung zu dieser Aufführung. So etwas „hätte man schließlich nicht ahnen können“.

Michael S. Zerban

Fotos: Björn Klein