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Fakten zur Aufführung 

PELLÉAS ET MÉLISANDE
(Claude Debussy)
13. März 2015
(Premiere)

Philharmonie Köln


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Diskrete Opulenz

Die Jahre um 1900 markieren eine der größten Zäsuren in der Geschichte der Oper. Puccini kreiert mit seiner extrem realistischen Tosca den Verismo, der die Ära des Bel Canto und der Grand Opéra überwindet. Richard Strauss schafft mit Salome 1905 und Elektra vier Jahre später eine gänzlich neue Tonsprache. Beide sind erklärte Antipoden der Hochromantik, speziell Richard Wagners, und setzen sich konstant in den Spielplänen der Musiktheater durch. Ähnlich und doch ganz anders verhält es sich mit Pelléas et Mélisande Claude Debussys. Sein Drame lyrique, 1902 in Paris in der Opéra-Comique uraufgeführt, ist zwar noch radikaler in Konfrontation zu Wagners musikdramatischen Schlachten der symphonischen Eruptionen entstanden, formuliert kategorisch einen neuen Impressionismus. Doch bleibt die erste originäre lyrische Oper des 20. Jahrhunderts ein Monolith als einzige Oper im Leben des Komponisten und als Singularität im Musiktheater des 20. Jahrhunderts. Eher selten auf den Spielplänen und auch nur mit wenigen Einspielungen auf Tonträgern präsent, wobei die renommierten unter ihnen wie die unter den Dirigenten Inghelbrecht, Karajan und Boulez durchweg mehrere Jahrzehnte alt sind.

So gesehen, ist die Entscheidung von Köln Musik, den Fünfakter in der Reihe Internationale Orchester in der Kölner Philharmonie konzertant zur Aufführung zu bringen, bemerkenswert und eine verdienstvolle Willkommenskultur, die dem Swedish Radio Symphony Orchestra und seinem Musikdirektor Daniel Harding bereitet wird. Debussys subtiler Klangrausch auf einen Text von Maurice Maeterlinck verlangt eigentlich nach Bühne und Inszenierung. Vordergründig verarbeitet der Komponist eine scheinbar triviale Dreiecksgeschichte, wie sie heute Tag für Tag in den Medien kolportiert wird. Mélisande ist im imaginären Königreich Allemonde die Gattin des Königssohns Golaud, von dem sie ein Kind erwartet. Sie fühlt sich jedoch zu dessen Halbbruder Pelléas hingezogen, dem sie ihre Liebe gesteht. Melancholisch-versonnen das ganze Tableau, brutal und tödlich hingegen der Ausgang. Golaud tötet seinen Halbbruder, Mélisande stirbt, an Leib und Seele verletzt, so schweigsam und introvertiert, wie sie auch gelebt hat. „Die menschliche Seele ist verschwiegen“, orakelt König Arkel am Ende, womit der rote Faden der Geschichte einfach, aber zutreffend benannt wäre. Tatsächlich hat der Dichter im Stil einer mittelalterlichen Sage klassische Märchenstoffe vom Froschkönig bis zur Wassernixe Melusine zu einer Collage verwoben, die jeden Regisseur und Bühnenbildner einfach reizen müssten.

In der Philharmonie erlebt das Publikum einen quasi dreistufigen Aufbau. Vorn das Swedish Radio Symphony Orchestra mit Harding auf dem Dirigentenpult. Erhöht im Hintergrund und gleichsam ein Stück entrückt die Solisten. Über ihnen der größer als üblich ausgefallene Bildschirm, auf den der  Text in deutscher Übersetzung projiziert wird. Ist die konzertante Wiedergabe gerade von Pelléas et Mélisande eh ein Wagnis, entsteht so eine gewisse Brechung der Wahrnehmung. Die Augen suchen kontinuierlich den Monitor mit den Textzeilen. Denn so gut ist die französische Artikulation, um die sich die Solisten mit großem Engagement mühen, nicht, als dass man es sich leisten könnte, auf die Texteinblendung zu verzichten. Und wem schon wäre die Sage von dem versponnenen Mädchen en détail vertraut? Wer sich indes auf die Konstellation erst einmal eingestellt hat, erlebt eine Win-Win-Situation. Präsent, just in time zur Diktion der Sänger die Story. Nah, umschmeichelnd, voluminös, berauschend die Sinnlichkeit dieser tonalen Naturseide, aus der Debussy sein Werk montiert hat.

Kurios und doch kein Widerspruch: In der Philharmonie entfaltet sich großes symphonisches Opernkino außerhalb der traditionellen Bahnen. Der Komponist verzichtet auf die Melodie als Basis von Gesangsrollen, auf Arien und Duette, Ensemblenummern, große Chöre und – eine kleine Spitze gegen die Konvention – auf den Tenor. Debussy muss Maeterlincks Drama geradezu als Glücksfall empfunden haben. Dessen Märchenfiguren – allen voran Mélisande – agieren in einer Traumwelt, in der Symbole wichtiger sind als Erklärungen und Bekenntnisse, in der Eindeutigkeit die Ausnahme und Mehrdeutigkeit die Regel ist. Wo die dürre Poesie des Ausgesprochenen alsbald an ihre Grenze gerät, übernimmt die reiche Poesie des Orchesterklangs. Zur Musik Wagners hat Debussy erklärt, er habe eine andere Vorstellung von der dramatischen Form: „Musik wird für das Unaussprechliche geschrieben. Ich möchte sie wirken lassen, als ob sie aus dem Schatten herausträte und von Zeit zu Zeit wieder dahin zurückkehrte. Ich möchte sie immer diskret auftreten lassen.“

Harding organisiert mit seinen Musikern die diskrete Opulenz der Partitur einfach großartig. Es gelingt das große schwelgerische Tableau wie das dramaturgisch wesentliche Detail, etwa die Schilderung der Natur, von Eber, Schaf und Pferd oder der Art, wie die merkwürdige Schöne ihr Haar kämmt. Exemplarisch für Hardings Kunst mag die subtile Korrespondenz zwischen Harfe und Kontrabass genannt sein, die sich an einer Stelle unendlich leicht und doch raumfüllend bildet.

Empathisch-betörend gelingen die Orchesterzwischenspiele, die ein Arrangeur vermutlich mit Wonne in eine komplette Sinfonie transformieren könnte. Nicht weit ist Debussy hier von Wagners endloser Melodie in Tristan und Isolde, die sich hier zum endlosen sinfonischen Poem weitet. Zu einem Kosmos der konstanten Verzögerung, in dem die Solisten ihren rezitativischen Part deklamieren und so das Geheimnis dieser Partitur vollenden. La plus que lente heißt ein 1910 von Debussy geschriebener Walzer für Klavier, der die Eigenart dieser Stilidee mittelbar in Erinnerung ruft. Denn wiederholbar, kopierbar ist das Werk Debussys nicht, nicht einmal von ihm selbst.

Die Titelpartien sind mit Christian Gerhaher und Karen Vourc‘h generös besetzt. Die Sopranistin, Mélisande bereits unter Gardiner in London und Dutoit in Tokio, übernimmt dabei für die erkrankte Sophie Karthäuser. Wohl dem Haus, das eine solche Einspringerin zu präsentieren vermag. Ihr Sopran gestaltet die Rolle makellos und voller retardierender Melancholie. Die Figur der Mädchenfrau ist bei ihr bestens aufgehoben. Dennoch löst ihre Performance über den ganzen Abend eine gewisse Reserviertheit aus. Vielleicht braucht die Sängerin ein szenisches Konzept. Vielleicht ist es auch unmöglich, sich an der Seite Gerhahers zumal in dieser Rolle adäquat zu behaupten. Dem Bariton und großen Liedsänger spielt das psalmodierende Parlando der Partie gleichsam in die vokalen Karten. Seine Stimme agiert zwischen Expressivität und Wärme, zwischen greller Schärfe und zartester Innigkeit, ganz wie es die Rolle verlangt. Gerhaher singt nicht nur den unglücklichen Königssohn, er spielt ihn bisweilen, was kleine energische Tanzschritte belegen.

Unter den weiteren Akteuren überzeugt insbesondere Christopher Maltman als Golaud mit seiner markanten, kräftigen und angenehm geführten Baritonstimme. John Tomlinson legt den König Arkel etwas zu wuchtig an, immer noch das prachtvolle Volumen des Wotan verratend, der er in Bayreuth und anderswo viele Jahre war. Die weiteren Rollen sind mit Wiebke Lehmkuhl als Geneviève, Katja Stuber, die den Knaben Yniold gibt, und Jeremy Carpenter in den Rollen von Arzt und Schäfer stimmig besetzt. Das Publikum, soweit Abonnenten auf sinfonische Konzerte geeicht, folgt dem Ereignis vor allem im ersten Teil mit großer Konzentration. Es feiert am Ende alle Künstler mit starkem anhaltenden Beifall. Die schon zu Beginn beträchtlichen Lücken im weiten Rund sind zwar nach der Pause noch größer geworden. Die, die gegangen sind, werden vielleicht nie erfahren, was sie versäumt haben, das wechselseitige Liebesgeständnis der beiden Protagonisten im vierten Akt zum Beispiel – in seiner verfrorenen Expressivität zu Tränen rührend. Dem insgesamt fabelhaften Gesamteindruck hat dies eh keinen Abbruch getan.

Ralf Siepmann