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Fakten zur Aufführung 

ONE MORE PIONEER
(Marion Wörle, Maciej Sledziecki)
4. Juni 2015
(Premiere)

Artheater Köln


Points of Honor                      

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Die Apokalypse rückt näher

In einer Gegend in Köln, in die man nicht kommt, wenn man nicht muss, liegt das Artheater. An diesem sommerlichen Abend findet hier eine Gastveranstaltung des Zentrums für Aktuelle Musik statt. Musiktheater nennt sich selbstbewusst One more pioneer, das auf einer Geschichte von David Foster Wallace beruht. Eine zwanzigminütige Verspätung trägt zudem weiterer Skepsis gegenüber einem Stück bei, das man nicht kennt. Eine knappe Stunde dauert das. Damit kann man leben. Also schließt man sich den knapp 20 Besuchern an, die einen dunklen Saal hinter einem – na, sagen wir Foyer mit einer Bar betreten. Die Erwartungen sinken gegen Null.

Die Bühne besteht aus einem Dreieck von Gaze-Wänden, dessen Basis den Raum vom Zuschauerraum abgrenzt. In der Mitte des Dreiecks ist ein Turm aus Instrumenten aufgebaut, die eigentlich von Hand gespielt werden, hier aber elektrifiziert sind, wie beispielsweise ein Akkordeon oder ein Banjo. Schön verbildlicht hier schon die Hinführung zum Thema des Stücks von Marion Wöhrle und Maciej Sledziecki: Wie sieht die Zukunft aus – wenn wir eine haben? Ein Projektor, der in den Turm eingebaut ist, wirft nach und nach die Zeilen einer Geschichte auf die vordere Gaze-Wand. Ein hyperintelligentes Kind wird von der Dorfgemeinschaft auf einen Thron gehoben und künftig nach den weiteren Geschicken befragt. Daraus entwickelt sich eine Beraterkaste, die die Fragen strategisch ausrichtet und an die Dorfbewohner verkauft, damit diese möglichst zielgerichtet fragen können. Schließlich reagiert das Kind mit Verwirrung, was zur Auflösung des Dorfes und letztlich zu dessen Verbrennung führt. Auf einer anderen Erzählebene in Form einer Projektion und einer Stimme aus dem Off begegnet dem Publikum Ted Kaczynski. Theodore Kaczynski ist ein promovierter Mathematiker mit einem Intelligenzquotienten von 165 und autistischen Zügen, der lebenslänglich in einem US-amerikanischen Zuchthaus sitzt. Der Öffentlichkeit ist er bis heute als „Unabomber“ bekannt, weil er mehr als 23 Briefbombenattentate verübte. Er beschreibt die moderne Gesellschaft in einem Satz. „Wir können alles tun, was wir wollen, solange es unwichtig ist.“

Die Autoren sitzen links und rechts hinter dem Dreieck an Mischpulten, während der Performer Jörn J. Burmester im Dreieck eine weitere Erzählebene einführt. Hier kommt dann auch Steve Jobs mit seinem unbedingten Fortschrittsglauben dank der Technik in Originalzitaten zu Wort. Parallel wird anhand von Projektionen einer Suchmaschine gezeigt, wozu technische Intelligenz heutzutage schon fähig ist – oder eben auch nicht.

Das willkürlich wirkende Aufeinandertreffen dieser Prophezeiungen und Prognosen ergibt dank der Musik von gamut inc und des Videodesigns von Zan Lyons eine düstere Aussicht. Elektronische Klänge von sphärischem Knistern bis zu stakkatohaften Beschleunigungsstücken mischen sich mit instrumental-tonalen Klängen. Dabei hat Klangregisseur Robert Nacken keine Angst vor Lautstärke. Und so befindet sich der Zuschauer auf dem Höhepunkt des Stücks in einer körperlich erfahrbaren Klanghölle, die ihm einen Begriff von der Apokalypse vermittelt. Falk Windmüller steuert mit wenigen Mitteln durchaus eindrucksvolles Licht bei.

Wörle und Sledziecki haben hier nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um das digitale Theater abgeliefert, sondern auch gezeigt, wie intelligentes, dichtes, intensives Musiktheater heute funktionieren kann. So ist bedauerlich, dass das Stück nur noch vier Mal Ende Juni in München auf die Bühne kommt. Bleibt zu hoffen, dass viele Festivalbetreiber und Juroren von Theatertreffen die Gelegenheit wahrnehmen, sich das Werk zu sichern und damit für eine weitere Verbreitung zu sorgen. Denn eines machen die Autoren hier sehr deutlich: Das Theater in jeder Erscheinungsform sehr wohl zum gesellschaftlichen Diskurs mehr beitragen kann als gute Unterhaltung.

Michael S. Zerban

 

Fotos: Paul Paulun, Christopher Hewitt