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Fakten zur Aufführung 

PETER GRIMES
(Benjamin Britten)
2. Juni 2015
(Premiere am 30. Mai 2015)

Theater Koblenz


Points of Honor                      

Musik

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Des Meeres und der Menschen Schrecken

Die Bewohner des kleinen Fischerortes suchen in Auntie‘s Pub Schutz vor dem aufziehenden Sturm. Sie haben Angst vor einer großen Flut, die ihre Häuser und ihre Existenz vernichten könnte. Save our coast, deklamieren sie in angsterfüllter expressiver Beschwörung. Jedes Mal, wenn sich seitlich die Tür zum Pub öffnet und weitere Zuflucht Suchende mit neuen Hiobsmeldungen auf der Zunge hineintreibt, braust der Sturm in die Gaststube. Unter der Wucht und dem Geheul des Orkans ducken und umklammern sich die Dörfler in kollektiven, wellenähnlichen Bewegungen, die wie Choreographien des Schreckens inszeniert sind. Opernchor und Extrachor werden darstellerische Leistungen bis zum Limit abverlangt. Es sind insbesondere solche Szenen, die der Aufführung von Benjamin Brittens Oper Peter Grimes am Koblenzer Theater eine grandiose Signatur verleihen.

Mit seinem ersten Stück für das Musiktheater, der Etablierung einer modernen englischen Oper, rückt der im Uraufführungsjahr 1945 gerade 32-jährige Komponist den Chor in das Zentrum des Geschehens. Das Team um den inszenierenden Hausherrn Markus Dietze folgt dieser Intention mit großer Phantasie und vielfältigem Einfühlungsvermögen. So ist ein starkes Stück Theater entstanden, das sein Publikum über den weiten Bogen von fast drei Stunden fordert, dann berührt und mehr und mehr in seinen Bann zieht. Ähnlich, wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen der Titelfigur Grimes. Ihn, den isolierten Fischer, Einzelgänger und Außenseiter, treibt es unrettbar und unaufhaltsam in den Strudel der schäumenden See an Englands nebliger Ostküste, die sein Ende bedeutet.

Der Stoff des Peter Grimes beruht auf einem Libretto, das Montagu Slater nach dem Poem The Borough von 1810 des Dichters George Crabbe verfasst hat, der wie Britten aus Suffolk stammt. Librettist wie Komponist verbindet die Liebe zur Heimat, was übersetzt heißt: zur See und zu den eigentümlich kantigen Menschen, die das Meer aus seinen Küstenbewohnern macht. Unter diesen lebt der Eigenbrötler Grimes, dem seine Mitmenschen zum Verhängnis werden, weil er im Zweifel ihren Argwohn erweckt und nicht ihre Empathie. Der Fischer ist vor dem Dorfgericht angeklagt, schuldhaft den Tod seines Lehrjungen verursacht zu haben. Freigesprochen aus Mangel an Beweisen, bleibt er dem ständigen Misstrauen der Dörfler und ihrem Hang zur Lynchjustiz ausgesetzt. Es ist zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine Provinzgesellschaft, die ihre kleinbürgerlichen Normen mit allen Mitteln verteidigt, gnaden- und erbarmungslos.

Abstrakt betrachtet, handelt das Stück vom Gegensatz von Mensch und Natur, eingefasst wie ein Gemälde in Brittens übermächtiger Passion: der See. „Der Mensch erfand die Moral, doch die Gezeiten haben keine“, heißt es an einer Stelle. Groß, majestätisch, kosmisch die See mit all ihrer Schönheit, all ihrem Schrecken; klein, erbärmlich, zum Schaudern der Mensch, einander missbrauchend, zum Mob in der Menge denaturierend, so wie es Gustave Le Bon ein Jahrhundert später in der Psychologie der Massen beschreiben wird. Für dieses Szenario haben Bodo Demelius, der das Bühnenbild, und Su Sigmund, die die Kostüme entworfen hat, adäquate Bilder und Ausdrucksformen geschaffen, die das Milieu der Fischergemeinde auf einen außerordentlich plastischen Begriff bringen. Überdies: Ist die Personenführung Dietzes für sich schon packend, leisten die Videosequenzen Georg Lendorffs in historisierendem Grau-Weiß ein Übriges. Turmhoch schwappen die Wellen, Furcht erregend und Tod bringend treibt ein Schiff auf die Küste zu. Die Katastrophe ist scheinbar nah.

Die Gischt der See wird in diesen Einspielungen bisweilen so bildhaft und gegenständlich, dass der Zuschauer im Saal fast schon um die Instrumente fürchtet, die das Staatsorchester Rheinische Philharmonie zur Beschreibung von Brittens Tongemälde verwendet. So eng und dicht zum Bühnenhintergrund mit der den Raum abschließenden Videowand sind die Musiker platziert. Ihre Domäne, der Orchestergraben, ist zugunsten des Spiels verdeckt, was der Aufführung eine höchst intensive Verbindung zum Publikum verschafft. Es wird gesungen, deklamiert, in den chorischen Formationen herausgeschleudert, was das Stück hergibt und verlangt. All das geschieht phasenweise an der Rampenbegrenzung, was im relativ kleinen Koblenzer Haus zum Effekt einer intimen Strapaze führt.

In einem spektakulären Kontrast hierzu – wie aus dem Off - interpretiert Enrico Delamboye mit seinen Musikern die sechs berühmten Orchesterzwischenspiele, die der Oper den über das konventionelle Format hinaus reichenden Ruf einer sinfonischen Oper eingebracht hat. Vier davon hat Britten unter dem Titel Four Sea Interludes in einem eigenen Zyklus zusammengefasst, der regelmäßig im Konzertbetrieb auftaucht. Die lyrische Eigenart und besondere Intimität dieser Zwischenspiele trifft das Staatsorchester unter Leitung des Koblenzer Musikdirektors superb. Machtvoll und gekonnt das Blech im Tagesanbruch, dem Übergang vom Prolog zum ersten Akt, betörend und eindringlich Flöten und Streicher in der Passacaglia, die zur zweiten Szene des zweiten Akts leitet – das ist Musizieren auf einem Level, der schlicht mit dem Wort Qualität umrissen ist.

In den Programmen der Bühnen rangiert Peter Grimes zwar unter dem Begriff Oper. In Wahrheit ist diese Melange unterschiedlicher Stile vom Hochbarock bis zum italienischen Verismo ein Genre höchst komplexer Natur, das letztlich eine eigene Musiksprache hervorbringt. Delamboye findet hierfür das durchaus zielführende Etikett einer „persönlichen Skizze, zu einer Großform verbunden“. Dieser „Großform“ wird das insgesamt beeindruckende Sängerensemble mehr als gerecht.

Die Akteure in den Schlüsselpartien agieren souverän, allen voran Ray M. Wade Jr., der als Gast die Titelpartie mit seiner voluminösen, ausdrucksstarken Tenorstimme gestaltet. Aurea Marston singt und gibt die Ellen Orford mit großer Innigkeit. Anne Catherine Wagner ist eine Auntie von prachtvoller Glaubwürdigkeit. Mark Morouse verkörpert mit seiner nuancenreichen Baritonstimme die Figur des Balstrode, Freund von Grimes und zugleich sein Antipode, der fähig ist, zu erkennen und zu handeln. Eine Offenbarung an diesem Abend ist Melanie Lang in der Rolle der klatschsüchtigen Ms Sedley. Sie spielt den Prototyp der selbsternannten Moralinstanz so markant, dass man sich insgesamt einen shitstorm wünscht, der – spielte das Geschehen in der Gegenwart – via soziale Medien über sie hereinbräche. Gefällig und angenehm im Duett harmonierend nicht zuletzt Hana Lee und Irina Marinaş als die beiden Nichten der Auntie.

Ist Englisch eine Opernsprache? Bedingt und wohl gewöhnungsbedürftig. Gleichwohl werden die Sänger und erst recht Chor und Extrachor dieser Erschwernis gerecht, sofern es überhaupt eine ist. Sie akzentuieren durchweg vorzüglich. Insbesondere gelingt das Wade und Lang, beide US-Amerikaner. Der intensive Applaus des Publikums gilt allen Mitwirkenden. Speziell dem von Ulrich Zippelius einstudierten Chor, der auch von einer geschickten Vorhangregie profitiert. Der Beifall ist anhaltend. Niemand eilt überstürzt in den ersten sommerlichen Abend dieses Monats. Was daran bemerkenswert ist? Auffällig viele junge Menschen haben die Aufführung verfolgt. Sie besuchen ein Musikgymnasium, wie versichert wird, und erleben nach der Tosca erst ihre zweite Oper. Auch das ein ermutigendes Signal.

Ralf Siepmann







Fotos: Matthias Baus