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Fakten zur Aufführung 

EMILIA GALOTTI
(Marijn Simons)
23. November 2014
(Uraufführung am 25. Oktober 2011)

Theater Koblenz


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Kammerspiel der unterkühlten Gefühle

Seit 1935, seit Alban Bergs Wozzeck und Lulu, sei keine diskutable Oper mehr komponiert worden. Dieses Verdikt formuliert Pierre Boulez 1967 in einem unvergessenen Interview mit dem Spiegel. Um dann hinzuzufügen: „Und Berg wußte wahrscheinlich, daß er ein Kapitel abgeschlossen hatte.“ Ob Boulez heute sein Urteil aufrechthielte, muss offenbleiben. Heute hieße ja auch, zwei Komponistengenerationen später, nach Opern von Hans-Jürgen von Bose, Detlev Glanert, Hans Werner Henze, Adriana Hölszky, Wolfgang Rihm oder Jörg Widmann. Weiter von John Adams, George Benjamin, Philipp Glass, Mieczysław Weinberg, um auch bekannte Namen außerhalb des deutschen Sprach- und Kulturraums einzubeziehen. Regelmäßig treten zudem zeitgenössische Komponisten an, der These vom abgeschlossenen Kapitel zumindest indirekt den Boden zu entziehen. Ökonomisch häufig erst durch Aufträge der Musiktheater in die Lage versetzt, einen Stoff, danach einen Textautor zu finden und sich dann Wochen und Monate an die Arbeit zu machen, eine adäquate, vielleicht neue, gar eigene Tonsprache zu finden.

Jetzt ist in Koblenz mit Emilia Galotti des 33-jährigen Niederländers Marijn Simons neuerlich ein solches Auftragswerk zu besichtigen. Anerkennung vorab einem Haus mit begrenzten Etatmitteln, das sich ein solches Projekt „leistet“ und das Wagnis eingeht, sein Publikum damit zu konfrontieren. Warum es eine Theaterfigur aus der Sturm-und-Drang-Ära unter dem Vorzeichen der Aufklärung heute auf eine Opernbühne schafft, ist wohl eine naheliegende Frage. Warum es quasi aus demselben Stoff nach der ersten Vertonung nun so etwas wie die Reprise einer Oper gibt, lässt sich dabei gleich mitbeantworten. Der clash of culture in Friedrich Schillers Kabale und Liebe, die Macht des Adels und der Standesdünkel des Bürgertums, inspiriert 1849 Giuseppe Verdi zu seiner Luisa Miller. Gotthold Ephraim Lessings Trauerspiel mit seiner ganz ähnlichen Personen- und Konfliktstruktur ist nun der Stoff, aus dem Simons die Ideen für seinen Opernerstling schöpft. Jus primae occasionis, wenn man so will. Mit dem Zugriff des Ersten, der die Gelegenheit erkennt.

Damit hat es sich dann allerding auch schon. Während Lessings Stück starken Einfluss auf Schillers Drama zugeschrieben wird, gibt es zwischen Verdi und Simons keinerlei Korrespondenz. Simons limitiert das Orchester für Emilia Galotti auf eine Besetzung, wie sie etwa aus Mozarts Così fan tutte geläufig ist. Das Stichwort für seine Oper sei „Kammermusik auf der Bühne, ein vertontes Kammerspiel“, äußert er im Interview. „Die Besetzung ist klein, und es gibt nicht einen einzigen Takt in der Oper, in dem das ganze Orchester mal zusammen spielt.“ Ob Verdi hierob nicht den Kopf geschüttelt hätte? Sein Librettist bei Luisa Miller ist im Übrigen der Neapolitaner Salvatore Cammarano, gewiss keine immer einfache Kommunikation für Verdi von der Lombardei aus. Bei dem Koblenzer Auftragswerk sind die Wege sichtlich kürzer und einfacher. Simons, der als Zehnjähriger sein Debüt als Solist mit dem Violinkonzert von Mendelssohn gibt, ist Konzertmeister beim Sinfonieorchester Aachen. Sein Landsmann Enrico Delamboye ist Musikdirektor und Chefdirigent am Theater Koblenz. Dessen Intendant Markus Dietze wiederum erarbeitet das Libretto. Das Ergebnis: eine massive Reduktion von Lessings Fünfakter auf eine Theatervorlage, die mit rund einhundert Minuten auskommt. Eine seltene, aber wohl glückliche Konstellation, von einem Teamwork geprägt, das zu Zeiten Verdis so gar nicht möglich ist.

Die Neugier auf ein neues Werk für das Musiktheater richtet sich zumeist und mit voller Berechtigung zunächst auf die Musik, auf die Klangwelt, auf die Individualität des Komponisten, die es im besten Fall zu entdecken gilt. Zu entdecken gibt es in der Tat Simons handwerkliche Fähigkeit, eine Musik für das Theater zu schreiben, durchaus auch für das Publikum, das ja immer kognitiv und emotional profitieren will. Entschieden hat er sich für eine eigene Ausdrucksform, die mit dem Etikett semitonal vermutlich einigermaßen benannt ist. Sie erlaubt die Entwicklung eines Geflechts von musikalischen Strukturen, die die dramatischen und seelischen Beziehungen der Protagonisten schildern, akzentuieren, plastisch und für das Publikum erlebbar machen. Simons Spektrum an Kompositionstechniken ist weit, jedenfalls so weit gespannt, um die Dynamik des Geschehens, die Eskalation hin zur Gewalt zu erfassen und zugleich anzutreiben. Es gibt Disruptives in der Charakterisierung der einzelnen Personen, so „den ständigen Crash von Dur und Moll in Emilias Namensmotiv“, um es mit den Worten des Komponisten zu sagen. Es gibt auch Harmonisches in den wenigen Momenten des Innehaltens, so durch Unisono-Streicherpassagen einen emotionalen Teppich wie beim Blockbuster im Kino nach dem spektakulären Finale. Auffällig ist der gezielte Einsatz von Flöte und Fagott, ganz besonders des Akkordeons. Befremdlich, weil atypisch in Relation zum Ganzen, aber reizvoll das an Richard Strauss vage erinnernde Finale mit Celesta.

Die Musiker des Staatsorchesters Rheinische Philharmonie unter Delamboyes konsequenter und energischer Leitung erbringen ganz ohne Zweifel eine herausragende Leistung. Es ist ja hier nicht das Ensemble Modern in Aktion, sondern ein Orchester, das heute Saint-Saëns, morgen Puccini, übermorgen Johann Strauss spielt und praktisch kaum zeitgenössische Stücke. Famos präsentiert sich auch das Koblenzer Sängerensemble, auf das hin Simons nach eigenem Bekunden geschrieben hat. Dabei produziert der Ausfall der Standardbesetzung Irina Marinas in der Titelrolle noch ein Handicap, das sich zwar nicht überspielen lässt, letztlich den Gesamteindruck aber nicht wesentlich schmälert. Die Nürnberger Sopranistin Monika Teepe singt die Emilia seitlich an einem Stehpult. Mit Professionalität und profundem Wissen um Rolle und Inszenierung übernimmt die Regieassistentin Inga Schulte den spielenden Part auf der Bühne. Das Publikum honoriert dieses Engagement zum Schluss mit Extrabeifall.

Aus dem Sängerkollektiv ragen der souverän auftretende Mezzosopran Monica Mascus in der Hosenrolle des Prinzen und die Koloratursopranistin Hana Lee als Orsina heraus, die mit vokaler Bravour in Höhe und Volumen besticht, wenn auch bisweilen zu schrill und schroff. Simons verlangt seinen Sängern immer wieder Rigoroses ab. Kurze Passagen von zwei oder drei Stimmen a cappella ziehen bruchlos solipstische jeder einzelnen Stimme nach sich. Bei diesen Figuren von Lessing, Dietze und Simons verfolgt ohnehin jeder nur sein Interesse, gnadenlos bis hin zum Mord. Juraj Hollý ist als Appiani in formidabler Verfassung, hat allerdings zu wenig Gelegenheit, seine funkelnde Tenorstimme zu präsentieren. Das Elternpaar ist mit Anne Catherine Wagner als Emilias Mutter und Bart Driessen als Vater überzeugend besetzt.

Die Enttäuschung dieser Koblenzer Novität ist eine Inszenierung ohne Idee und Originalität, die Elmar Goerden gemeinsam mit den Bühnenbildnern Silvia Merlo und Ulf Stengl verantwortet. Das bürgerliche Trauerspiel vollzieht sich in einem krass ausgeleuchteten und mit wenigen Stühlen möblierten Raum, was scharfe Kanten und Kontraste zur Folge hat. Lydia Kirchleitner lässt Lessings Personal ungeachtet der Standesunterschiede in einem durchgehenden Schwarz agieren, das sich auf einer Vielzahl der deutschen Opernbühnen inzwischen als Standardkostümierung etabliert hat. Menschen in Anthrazit, die so in den Opern Glucks, Händels oder Wagners in den Kampf ziehen oder im heutigen Alltag ins Büro oder in die nächste Hotelbar. Es fehlen die Augenblicke, die aus einem Theaterabend ein Erlebnis machen, aus einer kurzen Einstellung eine emotionale Berührung, die lange währt. Ein eindrucksvolles Momentum gibt es zum Glück doch noch. Goerden collagiert die Paare oder die komplette Familie wie zu einem Gruppenfoto hinter einem überdimensionierten Bilderrahmen, der mit transparenter Bühnengaze bezogen ist. Coole Menschen, reglos, gefühllos und beziehungslos untereinander. Diese Collage wirkt dann wie das die letzte Abbildung einer Gesellschaft, die alsbald abtreten wird.

Unter dem Strich überwiegt der Respekt vor einem ambitionierten Versuch für das Musiktheater von heute, der nach aller Erfahrung im besten Falle eine vage Zukunft vor sich hat. Diese Anerkennung artikuliert auch das Publikum mit mehr als höflichem, sogar anhaltendem Beifall. „Perlen bedeuten Tränen“, sagt voller Ahnung Emilia dem Grafen Appiani eingedenk des von ihm empfangenen Geschmeides. In Koblenz liegen die Perlen hingeworfen auf den Bühnenbrettern. Keine Tränen. Auch kein Grund dafür.

Ralf Siepmann







Fotos: Matthias Baus, Foto 1: Claudia Fahlbusch