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Fakten zur Aufführung 

CABARET
(John Kander)
19. Juli 2015
(Premiere)

Bad Hersfelder Festspiele

Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

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Jazzmusik trifft Kabarett

Knappste Kostüme, frivole Tanzeinlagen, freche Anmache, die kessen Mädels eines Berliner Cabarets der 1930-er Jahre geben fast alles, um ihr Publikum zu locken. Aber es sind nicht sie, die die Zuschauer begeistern und rühren. Ausgerechnet die beiden Alten, der Kolonialwarenhändler Herr Schulz und die Vermieterin Fräulein Schneider, bewegen die Zuschauer mit ihren unbeholfenen Versuchen, sich ein wenig näher zu kommen und noch einen Shimmy hinzulegen. Sie müssen bemerken, dass es für vieles schon zu spät ist und ihre späten Träume unerwartet in die nazi-braune Gegenwart abstürzen.

Gil Mehmert und Erik Petersen bringen mit ihrer Hersfelder Inszenierung einen Unterhaltungsklassiker im Stile von „straight forward“ – geradeaus – auf die Bühne. Ihnen geht es nicht um die große Welt der Revuen, sie erzählen „auf Küchenboden-Niveau“ und treffen damit das Berlin der 1930-er Jahre und seine Menschen. Dieses Regiekonzept hält sich nicht mit Firlefanz oder Seitengags auf, die Geschichte, einfach genug, kommt gerade daher, schnörkellos und direkt - die Zuschauer sind begeistert. Als sich das Leben des jungen Paares, des Girls Sally und des Journalisten Cliff mit dem des Gemüsehändlers Schulz und der ältlichen Vermieterin  Fräulein Schneider kreuzen, werden sie mit dem Auftauchen der Braunhemden brutal in die Gegenwart versetzt und ihre Träume zerschlagen. Dadurch gewinnt die Aufführung eine Unmittelbarkeit und Direktheit, die den Zuschauer überrascht und mitnimmt. Heike Meixners Bühnenbild kommt mit zwei Spielflächen aus, die Drehbühne erlaubt einen schnellen Szenenwechsel von der schummrig-glamourösen Cabaret-Suite mit Riesenpiano zu den tristen Wohngebäuden eines Berliner Hinterhofs mit seinen bescheidenen Gewerben und Zimmern. Cabaret-Szene und Wohnhinterhof bieten Falk Bauer reichlich Gelegenheit, die Akteure der Revuebühne doppeldeutig anzuziehen und den tristen Alltag der Hinterhofwohnungen grau durchschimmern zu lassen.

Helen Schneider, durch zahlreiche Alben und Fernsehauftritte bestens ausgewiesen, führt als routinierter Conferencier des Cabarets mit knappen Kommentaren und kühlen Songs auf dem überdimensionalen Piano durch den Abend, ein markanter Ankerpunkt der Aufführung. Bettina Mönch gibt der Sally Bowles mal einen naiv-betulichen, mal einen frech-frivolen Ausdruck. Mit röhrig-kräftiger Stimme oder verführerischem Geflüster  bringt sie die verspielte Geliebte, die nur das Eine im Kopf hat, oder die vor Liebe Verzweifelte, die die Bedenken und Ängste ihres „Dichters“ Cliff gar nicht verstehen kann. Rasmus Borkowski spielt diesen in die Berliner Welt der Dreißiger hinein stolpernden amerikanischen Schriftsteller, den alle den „Dichter“ nennen, als  eine etwas weltfremde Figur mit sympathischer Färbung, der angesichts des heraufziehenden braunen Unwetters die Flucht zurück nach Amerika ergreift. Der eher undurchsichtige Pensionsgast Ludwig entpuppt sich als braun gefärbter Mitbewohner. Björn Bonns SA-Mann kommt mit einer zurückhaltenden Darstellung aus, um die Doppeldeutigkeit und Gewaltbereitschaft dieses „Nachbarn“ erahnen zu lassen. Jessica Kessler spielt den Hafen für alle einlaufenden Seeleute naiv und direkt, sie schlägt sich auf ihre Weise schlicht durchs Leben.

Christoph Wohlleben bringt mit dem Orchester und flotten Rhythmen den Berliner Sound der Cabaret-Zeit auf die Bühne und in die Beine der Kit-Kat-Girls. Boys und Girls dieser Tanztruppe sorgen zum Vergnügen der Zuschauer für die gewünschte Frivolität der Revue. Das Bühnentrio mit Banjo, Saxophon und Akkordeon trägt seinen Teil zur Authentizität der Cabaret-Atmosphäre bei, und manchem Zuschauer zuckt es bei Foxtrott und Charleston in den Beinen.

Die Hersfelder Cabaret-Inszenierung konzentriert sich auf Alltagsgeschichten von Menschen, die im Wedding ähnlich passieren wie in der Bronx. Eine direkte, fast schnörkellose Regie lässt den Darstellern viel Spielraum, ihre Charaktere wirken authentisch. Das gilt besonders für die Figuren des Cliff, der Sally und – allen voran – des Fräulein Schneider und des Herrn Schulz. Manche Zuschauer sind gerührt, die populäre Judy Winter in dieser herrlichen Altenrolle wieder zu erleben.
Im steinschweren Gemäuer der fast ausverkauften Stiftsruine in Bad Hersfeld erlebt ein bestens unterhaltenes und mehrfach gerührtes Publikum einen Theaterabend, der durch seine Unmittelbarkeit und Direktheit angenehm überrascht. Dem Regieteam reichen einige knappe Szenen, um anzudeuten, dass der Übergang aus der Welt des Cabaret in eine grausame Wirklichkeit nicht mehr als einen Schritt bedeutet. Ein begeistertes Publikum verlässt die Ruine erst nach standing ovations.

Horst Dichanz  

 



Fotos: Klaus Lefebvre